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4.3.2 Kognitives Selbstbewusstsein,

Moralbewusstsein und Gewissen

 

Um den Übergang von der kognitiven Interaktion zum moralischen Engagement zu rechtfertigen, soll man das logische Problem des naturalistischen Fehlschlusses anhand des richtigen Übergangs von den Tatsachenurteilen über das Sein zu den normativen Aussagen über das Sollen bzw. Müssen und zu den Wertaussagen über das Gute lösen. Diesbezüglich hat Dussel allmählich den Prozess seiner Bewusstwerdung des Begriffs vom „Guten“ mit Hilfe seiner kommunikativen Interaktion mit verschiedenen Gesprächspartnern folgendermaßen thematisiert:

 

›Als ich mein Buch Ética de la Liberación veröffentlichte, hatte ich noch nicht klar erreicht, den Anspruch auf Güte zu erheben. Vorläufig behandelte ich zwar sein Thema, aber ich hatte es noch nicht deutlich und endgültig zu Bewusstsein gebracht. Tatsächlich war ich bei Bewusstsein, dass keine Handlung, Norm und Institution vollkommen gut sein konnten. Über das Gute hatte ich mit Kommunitaristen debattiert, [nämlich MacIntyre, Ch. Taylor und Walzer]. Über den Formalismus des Gültigen und Richtigen hatte ich ebenfalls auch mit K.-O. Apel Dialog geführt und J. Habermas kritisiert‹.[1]

 

Im Laufe dieses Gesprächsvorgangs ist Dussel zu dem Schluss gekommen, dass der Begriff vom „Guten“ aus drei Ansprüchen besteht, nämlich Anspruch auf praktische Wahrheit, auf praktische Geltung und performativem Anspruch auf Durchführbarkeit. Jeweils entsprechen sie dem materialen Inhalt, den formalen Vorgängen, die verständigungsorientiert sind, und den Möglichkeiten zur effizienten Anwendung der Ethik. Wer diese drei Ansprüche als Bedingungen für das Gute erfüllt, erhebt den Anspruch auf Güte. Logischerweise lässt sich er aus einer dreifachen Perspektive begründen, nämlich der materialen Perspektive der Tatsachenurteile über das Sein (1), der formalen Perspektive der normativen Aussagen über das Sollen bzw. Müssen (2) und aus der durchführungsorientierten Perspektive der Wertaussagen über das Gute, bei dem das effiziente Können bzw. die Durchführungsmöglichkeit eine entscheidende Rolle spielt (3).

 

4.3.2.1 Das Sein als materialer Grund des Guten

 

Von Tatsachen geht der logische Prozess aus, während dessen sich der Anspruch auf Güte begründen lässt. Vom Sein dieser Fakten ausgehend kann man mit Hilfe der folgenden Tatsachenurteile und normativen Aussagen den Anspruch auf praktische Wahrheit, den jede Wertaussage über das Gute erhebt, und ihren Anspruch auf Wahrhaftigkeit im Laufe eines logischen Argumentationsvorgangs begründen. Dafür kann man z.B. die folgenden Aussagen als Gründe anführen:

 

  • W isst gerade. W ist ein lebender Mensch, der gerade isst. W kann essen.

  • W bedarf des Essens, um leben zu können. Das Essen ist notwendig, damit die Menschen leben können.

  • W, das ein lebender Mensch ist und gerade isst, muss essen, um leben zu können. W und jedes X, das dem W ähnlich ist, muss essen, um leben zu können.

 

Folglich wird das Leben als Tatsache bzw. faktisches Sein zur normativen Pflicht, wonach Menschen essen müssen, damit sie leben können. Auf der Basis dieses materiellen, materialen Inhalts, der den Anspruch auf praktische Wahrheit und subjektive Wahrhaftigkeit des ersten deskriptiven Urteils des oben entfalteten Vorgangs begründet, kann die letzte normative Aussage besagten Vorgangs im Anschluss den Anspruch auf praktische Geltung, Richtigkeit und Verständlichkeit erheben.

 

4.3.2.2 Das Sollen bzw. Müssen als formaler Grund des Guten

 

Nach der materialen Grundlegung kann das menschliche Bewusstsein mit Hilfe der Argumentationsvorgänge seine kommunikative Interaktionsfähigkeit ausüben, um die folgenden Aussagen als gültige, richtige und verständliche Gründe für die formale Grundlegung des Anspruchs auf Güte anzuführen:

 

  • W und X essen und sind zusätzlich fähig, kommunikativ miteinander zu interagieren und unter Umständen bestenfalls zu argumentieren.

  • Kraft der kommunikativen Interaktion zwischen W und X ist eine Lebens- und Kommunikationsgemeinschaft möglich.

  • W und X können zusammen mit anderen, die ihnen ähnlich sind, eine Lebens- und Kommunikationsgemeinschaft bilden. Auf diese Weise können sie kraft ihrer kommunikativen Interaktion argumentieren und sich miteinander über die Mindestanforderungen des menschlichen Zusammenlebens verständigen.

  • Die Argumentation und Verständigung bedürfen formaler Vorgänge, die ihren Beitrag zur intersubjektiven Geltung verbindlicher Normen leisten. Z.B: Wer lebt, braucht Nahrungsmittel und muss essen, damit er menschlich gerade leben kann. Nicht nur W und X, die Mitglieder der Lebensgemeinschaft sind, sollen menschlich leben, sondern auch jedes Y, das bis jetzt aus irgendeiner Kommunikationsgemeinschaft formal ausgeschlossen worden ist, damit sie alle kommunikativ miteinander interagieren können.

  • Die materielle, materiale Ausgrenzung betrifft jeden Ausgeschlossenen und beeinträchtigt seine formale Teilnahme an den Kommunikationsvorgängen.

  • Die Ausgeschlossenen, die von den Verständigungen der Beteiligten betroffen worden sind, müssen sich zur Übernahme besagter Verständigungen auf gar keinen Fall verpflichten.

  • Die Geltung der Verständigungen hängt von der Argumentation ab und verlangt die Teilnahme von W, X und Y, die kommunikativ miteinander interagieren (…) und unter Umständen bestenfalls argumentieren müssen.

  • Y kann nicht nur daran teilnehmen, sondern W und X können auch Y einladen, an ihren formalen Kommunikationsvorgängen teilzunehmen.

  • Daran müssen W, X und Y teilnehmen und bestenfalls argumentieren, damit die Verständigungen und ihre Normen verpflichtend und gültig werden.

 

Folglich können sich normative Aussagen über das Müssen bzw. Sollen, die von deskriptiven Urteilen über das Sein ausgehen, logischerweise begründen lassen und Anspruch auf praktische Geltung der richtigen Normen und Verständigungen dann und nur dann erheben, wenn Beteiligte und ausgeschlossene Betroffene an den formalen Kommunikationsvorgängen teilnehmen. Dennoch ist der Übergang von den normativen Aussagen zu den Wertaussagen noch nicht logischerweise gerechtfertigt worden, denn zu diesem Zweck soll man außerdem die strategische und instrumentelle Rolle der Durchführbarkeit thematisieren.

 

4.3.2.3 Das Können als durchführungsorientierter Grund des Guten

 

Zwecks der Grundlegung des Anspruchs auf Durchführbarkeit muss man den logischen Übergang vom Müssen zum Können rechtfertigen. Auf die Fakten müssen sich die normativen Aussagen stützen und nach der Erreichung der Verständigung möglichst im Alltagsleben das Ziel ihrer effizienten Durchführung bezwecken. In der Folge versucht der unten entfaltete Argumentationsvorgang, die Ausübung der kommunikativen Interaktionsfähigkeit des Bewusstseins zum Zuge zu bringen.

 

  • Wie gesagt, W isst gerade und bedarf des Essens, um leben zu können. Im Vergleich zu ihm bewirbt sich Y als Dienstboten, weil es als Opfer von der Arbeitslosigkeit betroffen worden ist.

  • Die Arbeitslosigkeit ist eine materielle Ausgrenzungsart und beeinträchtigt die formale Teilnahme der Opfer an den Kommunikationsvorgängen, wenn es oft den Opfern sogar an Lebensmitteln mangelt. Wegen des materiellen Mangels kann Y oft nicht menschlich leben und auf diese Weise ist der materiale Wertinhalt seines menschlichen Lebens betroffen.

  • Wer oft infolge der Arbeitslosigkeit nicht essen kann, kann nicht nur krank werden, sondern auch letztendlich daran sterben.

  • In Anbetracht der vier ersten Durchführbarkeitsstufen; die logisch, empirisch, technisch und ökonomisch sind, kann Y angestellt werden. Wenn Y angestellt wird, kann es materielle Ressourcen haben, damit es menschlich leben kann. Auf diese Weise kann kein Mangel an Ressourcen den materialen Wertinhalt seines menschlichen Lebens betreffen.

  • Die Anstellungsentscheidung kann intersubjektiv gefällt werden, wonach Y unter Vertrag genommen werden kann, und besagten Vertrag kann Y als Arbeitslosigkeitsopfer schließen.

  • Wenn das möglich ist, können andere Arbeitslosigkeitsopfer gemäß den oben erwähnten Durchführbarkeitsstufen unter Vertrag genommen werden.

 

Kurzum ergeben sich die folgenden Aussagen und ein letztes Argument für die Wertaussagen aus der Grundlegung der Ansprüche auf praktische Wahrheit, praktische Geltung und Durchführbarkeit, die jeweils in Zusammenhang mit der dreifachen Perspektive der deskriptiven Tatsachen-, normativen Urteile und Wertaussagen begründet worden sind:

 

 

  • Tatsachenurteil und normative Aussage des Anspruchs auf praktische Wahrheit mit materialem Inhalt und impliziter Wahrhaftigkeit: W ist ein lebender Mensch, der gerade isst. W muss essen, um leben zu können.

  • Normative Aussage des Anspruchs auf praktische Geltung mit formaler Richtigkeit und Verständlichkeit: An den Kommunikationsvorgängen müssen W, X und Y teilnehmen, damit die Verständigungen und ihre Normen verpflichtend und gültig werden.

  • Tatsachenurteile über die Fakten und Möglichkeiten des Anspruchs auf Durchführbarkeit: Y ist von der Arbeitslosigkeit betroffen worden. Gemäß den logischen, empirischen, technischen und ökonomischen Durchführbarkeitsstufen können Y und andere Arbeitslosigkeitsopfer unter Vertrag genommen werden.

  • Wenn die drei oben erwähnten Aussagen wahr, gültig und durchführbar sind, ist die Entscheidung ethisch gut, Y und andere Arbeitslosigkeitsopfer unter Vertrag zu nehmen. Folglich ist das zu tun, man soll es tun und das ist ethisch gut. Wer es nicht tut, ist ethisch schlecht.

Auf diese Weise wird das kognitive Selbstbewusstsein eigentlich am Ende der intersubjektiven Argumentationsvorgänge, während deren sich seine Fähigkeit zur kommunikativen Interaktion ausüben und schrittweise entwickeln lässt, nicht nur zum kommunikativ interaktiven Moralbewusstsein nach Art von Habermas, sondern auch zum ethischen, moralischen Gewissen nach Art von Dussel. Aus der ethischen, moralischen Sicht des Gewissens wird der Anspruch auf Güte erhoben, dessen Grundlegung im Lichte des Übergangs vom Sein zum Müssen bzw. Sollen mittels des Könnens als Vermittlung und Brücke zwischen den Tatsachen und Pflichten kohärent ist. Infolgedessen spielt das Können, das etwas mit den Möglichkeiten zur instrumentellen und strategischen Durchführung jeder Handlung zu tun hat, eine zentrale und praktische Rolle bei der Ethik, nach der das Thema dieser Dissertation strebt.

 

 

 

[1] Auf Spanisch lautet der oben zitierte Text folgendermaßen: «Cuando concluí la redacción de Ética de la Liberación, todavía no había logrado formular claramente […] la pretensión de bondad. Merodeaba el tema […], pero no había cobrado conciencia clara y definitiva sobre la cuestión. En efecto, tenía conciencia que ningún acto, norma o institución podía ser perfectamente buena. Habíamos debatido con los comunitaristas –que pretenden tener como el monopolio del tema del bien, good– […]. Habíamos igualmente dialogado con K.-O. Apel, y criticado a J. Habermas, acerca de su formalismo de lo válido (right)». Ders., Política…, Bd. II, S. 514 § [428].

 

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