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3.3 Habermas’scher und Muckscher Wahrheitsbegriff 

im Rahmen des interaktiven und weltanschaulichen Dialogs

 

 

Obwohl der Ausgangspunkt, das Ziel und viele Begriffe der Ansätze von Muck & Habermas voneinander äußerst unterschiedlich sind, teilen sie miteinander im Rahmen des weltanschaulichen Dialogs und des dialogischen Beitrags zur Interaktion des menschlichen Bewusstseins jeweils mindestens einen Geltungsanspruch mit einem Wahrheitsbegriff, der trotz des großen Unterschieds zwischen beiden Philosophen teilweise ähnlich ist. Aus diesem Grund ist der Habermas’sche mit dem Muckschen Wahrheitsbegriff, deren gemeinsame Suche allerdings jedem Menschen zur intersubjektiven Entwicklung der kommunikativen Interaktion seines Bewusstseins verhilft, vereinbar und sie beide ergänzen sich gegenseitig.

 

3.3.1 Große Unterschiede

 

Während der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung Mucks mit dem Thema des Dialogs explizit religiös und weltanschaulich ist, ist Habermas’ diskursiver Ansatz zu den Kommunikationsvorgängen zwar säkular und nichtreligiös, aber keineswegs antireligiös. Unter diesem Gesichtspunkt kritisiert Habermas die Ideologien, mittels deren die Gesprächspartner ab und zu die Kommunikation verzerren können, während Muck den Dialog zwischen den Weltanschauungen betont. Infolge eines reduzierenden Vernunftbegriffs, der instrumentell und kognitiv ist, haben etliche Philosophen und Ideologien niemals plausibel die Theorie mit der Praxis in Einklang bringen können. Um sie plausibel trotz ihres gegenseitigen Gegensatzes miteinander zu vereinbaren, setzt sich Habermas mit dem Thema der intersubjektiven Detranszendentalisierung des Kantischen Subjekts auseinander, das er mit Hilfe der Universalpragmatik vergesellschaftet. Im Vergleich dazu führt Muck die Aufgaben der Transzendentalphilosophie fort und geht dialogisch seinerseits über die Grenzen der subjektivitätsfreundlichen Bewusstseinsphilosophie hinaus. Auf diese Weise können die Muckschen ›Dialogpartner‹ tatsächlich intersubjektiv interagieren, obgleich er eben andere Terminologie gebraucht, z.B.: ›Dialog‹ und ›Prozess‹ des Dialogs anstatt ›kommunikativer Interaktion und intersubjektiven Kommunikationsvorgangs‹.[1]

 

Darüber hinaus neigen Ansätze von Muck & Habermas jeweils zu verschiedenen Zielen, denn der erstere strebt in Anlehnung an Coreth & Rahner nach einer transzendentalen Begründung der Metaphysik. Im Unterschied dazu erhebt das nachmetaphysische Denken Habermas’ Anspruch auf eine universalpragmatische Bewusstseinsvergesellschaftung und auf eine Vernunftdetranszendentalisierung.

 

In diesem Zusammenhang erwerben viele Begriffe Mucks Konnotationen, die im engsten Sinne anders als die Habermas’schen sind. Aus seiner Sicht gebraucht Muck zwar bisweilen Habermas’sche Terminologie, aber seine Voraussetzungen sind eher metaphysisch als nachmetaphysisch, z.B.: ›Anspruch auf Geltung‹,[2] ›Anspruch auf Wahrheit‹,[3] ›gemeinsame Suche nach Wahrheit‹, ›diskursiver Dialog‹, ›gemeinsames (kommunikatives) Handeln‹, ›sprachliche Kompetenz‹, ›Kommunikation‹[4] u. a. Davon abgesehen distanziert sich Muck terminologisch von Habermas anhand des Gebrauchs einer eigenen Fachsprache und betont mitunter ausdrücklich innerhalb der Transzendentalphilosophie vor allem die metaphysischen Denotationen seiner Fachbegriffe.[5] Z.B. ist der Prozess, der sich an der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit orientiert, bei Muck ein Begriff, der mit der Transzendentalienlehre zusammenhängt. Im Unterschied dazu sind Kommunikationsvorgänge, während deren sich die Geltungsansprüche implizit erheben lassen, bei Habermas auf einer postdiskursiven Stufe vielmehr einverständnis- und verständigungsorientiert. In diesem Bereich räumt Muck ein, dass Argumente dem besseren gegenseitigen Verständnis u. a. dienen.

 

Unter diesem Gesichtspunkt thematisiert Muck zwar im Besonderen den Wahrheitsanspruch, den er vom Begriff „Für-wahr-Halten“ unterscheidet,[6] aber er vernachlässigt die explizite Erläuterung zur diskursiven Rolle der anderen drei Geltungsansprüche im Laufe des Dialogprozesses, der laut ihm allerdings nicht abgeschlossen ist. In ähnlicher Weise besteht Habermas auf dem Thema einer einschließenden, unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft, während Muck im Kontext des Pluralismus auf den interreligiösen und weltanschaulichen Dialog seine Theorie über die gemeinsame Suche nach der Wahrheit anwendet.[7] Im Rahmen besagter Theorie ist Muck einer Meinung mit Habermas, dass der Wahrheitsanspruch eher die Einschätzung der Partner als die Wahrheit der Auffassungen betont.[8] Obwohl der Mucksche Ansatz in diesem Sinne z. T. pragmatisch ist, ist besagte Einschätzung bei Muck eher subjektiv und persönlich als intersubjektiv, interpersonal und universalpragmatisch.

 

Infolgedessen gehören Ausdrücke von Muck & Habermas jeweils verschiedenen Wortfeldern an, nämlich dem Wortfeld der Transzendentalphilosophie zum ersteren, dessen Ansatz auf die analytische Philosophie und unthematisch auf die semiotische Pragmatik Bezug nimmt, und dem Wortfeld der Universalpragmatik zum letzteren. Innerhalb dieser Wortfelder ›denotieren‹ Mucks Ausdrücke etwas Metaphysisches, während Habermas’ Fachbegriffe nachmetaphysischen Denotationen Nachdruck verleihen. Z.B. soll man aus der Perspektive der Transzendentalphilosophie als eine semiotische Pragmatisierung der Metaphysik die folgenden Ausdrücke Mucks auffassen: ›Gemeinsame Praxis‹, ›betreffende Dialogpartner‹,[9] ›differenzierter Konsens‹, ›reziproke Kommunikation‹ und ›zwischenmenschliche Gemeinschaft‹.[10]

 

Hingegen streben die folgenden Fachbegriffe des nachmetaphysischen Denkens Habermas’ eigentlich nach einer universalpragmatischen Vergesellschaftung bzw. Detranszendentalisierung der Metaphysik: ›Praxis, kommunikatives Handeln‹, ›Betroffene, Beteiligte, Gesprächspartner‹, ›Einverständnis und Verständigung‹, ›intersubjektive Kommunikation‹, ›unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft‹, u. a. Kann man dessen ungeachtet den Muckschen Wahrheitsbegriff mit der Habermas’schen Wahrheitsauffassung in Einklang bringen?

 

3.3.2 Vereinbarkeit

 

Trotz der oben erwähnten Unterschiede ist die Wahrheitsauffassung Habermas’ insoweit teilweise mit dem Wahrheitsbegriff Mucks vereinbar, als sie wenigstens die Ansicht einer Wahrheitsvorstellung vertreten, deren drei Aspekte nämlich material, formal und pragmatisch sind. Samt scholastischen Philosophen setzt Muck nicht nur voraus, dass die Wahrheit einen erkenntnistheoretischen und metaphysischen Aspekt (1) und einen logischen Aspekt hat (2), sondern er verteidigt auch mit der Sprachphilosophie im Laufe der Dialogprozesse die im semiotischen Sinne pragmatische Funktion der Wahrheit (3).

 

1) In diesem Zusammenhang stellt Muck kritisch der Wahrheitsauffassung des Werks „Logische Propädeutik“ von P. Lorenzen (1915-1994) und W. Kamlah (1905-1976), dessen sprachanalytischer Ansatz laut Muck sehr anregend und weiterführend ist, die klassische Deutung des materialen Inhalts der Wahrheit als «adaequatio rei et intellectus»[11] gegenüber, d.h. als Übereinstimmung von Sachverhalt und Urteil, von Sache und Verstand und von Sachverhalt und Aussage.[12] In Anlehnung an den gemäßigten Realismus räumt Muck ein, dass besagte Übereinstimmung offensichtlich von der Vorstellung einer eher starken als angemessenen Wirklichkeitsabbildung im menschlichen Bewusstsein häufig missverständlich aufgefasst wird. Im Unterschied zu dieser Auffassung versteht der gemäßigte Realismus vielmehr aus einer erkenntnistheoretischen und metaphysischen Sicht die Übereinstimmung als Erkennbarkeit, ›Wissbarkeit‹ bzw. ›Intelligibilität‹ des Seienden im Rahmen der Korrespondenztheorie.

 

Aus der Perspektive seines universalpragmatischen Realismus, wonach der Begriff von „Referenz“ unbedingt nötig ist, fasst Habermas den materialen Wahrheitsaspekt als ›semantischen Bezug‹ auf die subjektive, soziale, objektive und intersubjektive Welt auf.[13] Obgleich Habermas bereits seit Beginn der 70er Jahre in seine Vorstudien Was heißt Universalpragmatik? und Wahrheitstheorien die Grundbegriffe von Wahrheit, Objektivität, Wirklichkeit, Referenz, Tatsache, Sachverhalt, Aussage u. a. eingeschlossen hatte, wollte er am Ende der 90er in seinem Werk Wahrheit und Rechtfertigung die Einseitigkeit jener Vorstudien korrigieren. Z.B. schrieb Habermas im Jahre 1972 folgendes:

 

«Wir können jeder Aussage einen Sachverhalt zuordnen, aber wahr ist eine Aussage dann und nur dann, wenn sie einen wirklichen Sachverhalt oder Tatsache wiedergibt – und nicht etwa einen Sachverhalt als eine Tatsache vorspiegelt».[14]

 

Mit Hilfe des Begriffs „semantischen Bezugs“ distanziert er sich im Jahre 1999 von besagter Wahrheitsauffassung als Wiedergabe von wirklichen Sachverhalten bzw. Tatsachen, die zum Repräsentations- bzw. Abbildungsmodell gehört. Im Allgemeinen deutet Habermas bedauerlicherweise im Rahmen besagten Modells die Korrespondenztheorie über die Wahrheit und wirft alles in einen Topf. Daher ist sowohl solches Repräsentationsmodell als auch die Korrespondenz von Tatsachen und Sätzen, d.h. von Sachverhalten und Aussagen, gemäß seinem universalpragmatischen Realismus nicht mehr zu halten. Aber dessen ungeachtet wendet Habermas nichts Ausdrückliches im Besonderen gegen die so genannte adaequatio rei et intellectus ein, sondern er gebraucht vielmehr in einem anderen Bereich das Wort „Übereinstimmung“, nämlich im Wortfeld des Verhältnisses von Einverständnis und Verständigung. Dazu fügt Habermas folgendes hinzu:

 

«Wir sehen, daß im Deutschen der Ausdruck ›Verständigung‹ mehrdeutig ist. Er hat die Minimalbedeutung, daß zwei Subjekte einen sprachlichen Ausdruck identisch verstehen, und die Maximalbedeutung, daß zwischen beiden Übereinstimmung besteht über die Richtigkeit einer Äußerung in bezug auf einen gemeinsam anerkannten normativen Hintergrund».[15]

 

Obwohl Habermas freilich von der Korrespondenz- zur Verständigungstheorie die Bedeutung des Übereinstimmungsbegriffs verschiebt, ist besagte Auffassung insoweit z. T. mit dem Muckschen Wahrheitsbegriff vereinbar, als der Inhalt der Wahrheitsvorstellung des gemäßigten Realismus und des universalpragmatischen Realismus wenigstens material ist. D.h. zum einen hat die Wahrheit einen Inhalt gemäß der Theorie der ›adaequatio‹ und zum anderen nimmt sie auf etwas in der Welt Bezug.

 

Mit Hilfe der Semiotik lässt sich die Wahrheitsauffassung als semantischer Bezug bzw. Referenz insofern mit dem Wahrheitsbegriff als ›adaequatio‹ in Einklang bringen; als besagter Bezug auf die subjektive, soziale, objektive und intersubjektive Welt zumindest eine Übereinstimmung vom Sachverhalt und Aussage nach Art von Muck impliziert und als das Mucksche Verhältnis von Aussage und Sachverhalt einen semantischen Bezug des Urteils, Verstands bzw. ›intellectus‹ auf den Sachverhalt, Sache bzw. ›rem‹ einschließt.[16] Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mucks Wahrheitsbegriff als adaequatio rei et intellectus transzendentalphilosophisch ist, während die Habermas’sche Wahrheitsauffassung als semantischer Bezug auf etwas in der wirklichen Welt detranszendentalisiert und vergesellschaftet ist.

 

2) Jenseits des Thomismus, nach dem die formale Wahrheit aufgrund der Richtigkeit bzw. Kohärenz zwischen Subjekt und Prädikat in einem logischen Urteilsakt besteht,[17] entwickelt Muck von der folgenden Voraussetzung ausgehend den Aspekt der formalen Wahrheitsgeltung:

 

«Die Frage nach der Wahrheit setzt eine Reflexion auf die Geltung unseres Wissens voraus. […] Die Frage nach der Geltung unseres Wissens und nach den Kriterien dieser Geltung wird zur Frage nach der Wahrheit und den Kriterien für die Wahrheit unserer Aussagen».[18]

 

Muck zufolge kann das so genannte, ›operative Bejahbarkeitskriterium‹, die entweder absolut oder relativ sein kann, formal die Geltung unseres Wissens umschreiben. Buchstäblich nennt Muck den logischen Wahrheitsaspekt «die formale Umschreibung der Geltung unseres Wissens durch das operative Kriterium der Bejahbarkeit».[19] In groben Umrissen lässt sich eine Aussage dann und nur dann absolut zu vollem Recht und ohne Irrtumsmöglichkeit bejahen, wenn feststeht, dass «keine für besagte Aussage relevante Frage offen ist»[20]. Z.B. ist die Rechtfertigung des Aristotelischen Widerspruchsprinzips absolut gemäß dem operativen Kriterium Mucks bejahbar, während Wissensgehalte unseres Alltagslebens meistens erst relativ bejahbar sind, weil sie aber umstandsbedingt sind. Einerseits handeln absolut bejahbare Aussagen von demjenigen, das wirklich ist. Andererseits äußern relativ bejahbare Aussagen einzig und allein dasjenige, das zu sein scheint.[21]

 

Mit dem formalen Wahrheitsaspekt hat sich Habermas auseinandergesetzt, wenn er das Thema der Wahrheit als universalen Geltungsanspruchs bzw. allgemeiner Kommunikationsvoraussetzung behandelt. Oft hebt Habermas so sehr diesen formalen Aspekt heraus, dass seine Theorie eher eine Kohärenz- und noch genauer eine universalpragmatische Richtigkeitstheorie der Wahrheit zu sein scheint. Aus diesem Grund bleibt die Wahrheit bei Habermas im Vergleich zu Muck, bei dem sich ihr formaler Aspekt vom materialen Aspekt bzw. wirklichen Sachverhalt der Thomanischen Adäquationstheorie ausgehend eher im Rahmen der Korrespondenztheorie entwickeln lässt, eher mit der Richtigkeit verbunden.

 

Übrigens bedingt der materiale Wahrheitsaspekt die Mucksche Fragestellung nach der Bejahbarkeit als formalem und umschreibendem Geltungskriterium für die Wahrheit unserer Erkenntnis und Aussagen, während Habermas hingegen im Bereich des universalen Geltungsanspruchs auf Richtigkeit die These über die formale Rechtfertigung der Wahrheit vertritt. Ungeachtet ihrer Unterschiede räumen Muck und Habermas letztendlich ein, dass die Wahrheit kurzum einen formalen Aspekt hat, d.h. zum einen die formale Umschreibung der Geltung der wahren Aussagen und zum anderen die logische Richtigkeit, die Geltung und formale Rechtfertigung der Wahrheit. Dem ersteren mangelt es innerhalb seiner Dialogtheorie an einer ausführlichen Entwicklung der logischen Richtigkeit und dem letzteren an einer systematischen Behandlung des Themas über den materialen Wahrheitsaspekt.

 

3) Im Lichte des sprachanalytischen Ansatzes Kamlahs schließt Muck in seinen Wahrheitsbegriff semiotische Elemente des pragmatischen Wahrheitsaspekts ein, der im Laufe der Dialogprozesse als intersubjektiver Sprachpraxis betont wird. Zum Kriterium interpersonaler Verifikation bzw. ›Homologie‹ Kamlahs, wonach die intersubjektive Verifikation jeder behaupteten Aussage als Bedingung für die Wahrheit besagter Aussage zu Recht fordert wird, meint Muck folgendes: Die Kamlahsche Forderung für die interpersonale Verifikation von Aussagen ergibt sich bisweilen aus dem oben erwähnten, operativen Kriterium, das allgemeiner als besagte Forderung ist.

 

Darüber hinaus räumt Muck ein, dass die Forderung nach intersubjektiver Verifizierbarkeit zwar eventuell ein Sonderfall des operativen Kriteriums ist, aber sie beide sind überhaupt nicht gegenseitig umkehrbar. D.h. eine absolut bejahbare Aussage impliziert, dass sie wahr ist.[22] Sie ist dann und nur dann wahr, wenn ihr dargestellter Sachverhalt wirklich ist. Im Gegensatz dazu ist eine Aussage dann und nur dann absolut bejahbar, wenn sie wahr ist und das bejahende Subjekt sie als wahre Aussage erkennt. In diesem Sinne ist die Wahrheit eher eine notwendige Bedingung für die absolute Bejahbarkeit einer Aussage als eine hinreichende Bedingung dafür,[23] da jeder Bejahende auch subjektiv wissen soll, dass die objektiv wahre Aussage wahr ist.

 

Im Rahmen des Dialogs mit anderen Denkern hält Muck für ein hilfreiches Mittel das so genannte Äquivalenzprinzip zwischen der absoluten Bejahbarkeit und ihren Bedingungen gemäß der adäquationstheoretischen und intentionalen bzw. phänomenologischen Wahrheitsauffassung, um den Zusammenhang zwischen der Transzendentalphilosophie und Phänomenologie zu thematisieren und den Unterschied zwischen „Sein“ und „Anschein“ zu fokussieren. Auf der einen Seite betont die erstere die operative Analyse bzw. sprachanalytische Vorgangsweise, die eher reflexiv als spontan von den subjektgerichteten Erkenntnisvollzügen ausgeht, nämlich von den Tätigkeiten des Sprechens, Fragens und Bejahens. Auf der anderen Seite hebt die Phänomenologie eben die intentionale Analyse bzw. objektgerichtete Vorgangsweise hervor, deren eher spontaner und direkter als reflexiver Ausgangspunkt die methodologische Besinnung auf die neigende Orientierung des erkennenden Bewusstseins zum Objekt ist.

 

Alles zusammengenommen, die drei Aspekte der Wahrheit lassen sich einfach eher als ergänzende Theorien als ausschließende Gegensätze auffassen und sind infolgedessen miteinander so vereinbar genauso wie die oben erwähnte, operative und intentionale Analyse der Wahrheitserkenntnis. Besagten Einklang der Korrespondenz- mit der Kohärenz- und pragmatischen Theorie betreffend schreibt Muck folgendes:

 

«Durch diese Kritik ist eine derartige Modifizierung dieser Theorien möglich, daß sie annehmbar werden. In diesem modifizierten Sinn stellen sie keine Gegensätze dar, sondern machen drei wesentliche Aspekte wahrer Aussagen deutlich: daß sie die Vielfalt unserer Wissensgehalte einheitlich auf die Wirklichkeit hin beziehen und so Grundlage unserer Lebenspraxis sind».[24]

 

Im Lichte der Vereinbarkeit besagter Aspekte lässt sich die Wahrheitsauffassung Habermas’ mit dem Muckschen Wahrheitsbegriff in Zusammenhang bringen. Aus der Perspektive des pragmatischen Wahrheitsaspekts ist die These Habermas’ über den allgemeinen Geltungsanspruch auf Wahrheit insoweit mit der Muckschen Kritik an der Kamlahschen Forderung für die intersubjektive Verifikation von Aussagen vereinbar, als Mucks operatives Kriterium absoluter Bejahbarkeit jeder wahren Aussage allgemeiner als besagte Forderung ist. In diesem Zusammenhang kann man die Mucksche Ansicht, wonach die Wahrheit nur eine notwendige, aber nicht eine hinreichende Bedingung für die absolute Bejahbarkeit einer Aussage ist, und die Habermas’sche Lehre von der Wahrheitsrechtfertigung, wonach die objektive Wahrheit mit Hilfe der interpersonalen Beziehungen gerechtfertigt werden soll, in Wechselwirkung zueinander bringen.

 

Demnach soll man explizit die Kognitionsvergesellschaftung und die interaktiven Gehirnvorgänge jedes Subjekts, das jede objektiv wahre Aussage bejaht und subjektiv jede wahre Aussage erkennt, im Laufe des Erkenntnisprozesses hervorheben. Daher soll sich die absolute Bejahbarkeit nach Art von Muck im Rahmen der Vergesellschaftung jedes Dialog- bzw. Gesprächspartners auffassen lassen.

 

Abgesehen davon verwendet Muck häufig beim Verifikationsbegriff die Adjektive „interpersonal“ und „intersubjektiv“ als Synonyme, während Habermas das erstere mit dem Geltungsanspruch auf Richtigkeit und das letztere bzw. das Wort „Intersubjektivität“ mit dem Geltungsanspruch auf Verständlichkeit verbindet.[25] Insofern ›konnotiert‹ das Adjektiv „interpersonal“ bei Habermas eigentlich etwas eher Konventionelles und das Adjektiv „intersubjektiv“ etwas eher Postkonventionelles bzw. Diskursives, weil sich richtige Normen auf der postkonventionellen Stufe der Verständlichkeit im Lichte diskursiver Prinzipien begründen lassen. In diesem Sinne bedarf der materiale Aspekt der objektiven Wahrheit sowohl der subjektiven Wahrhaftigkeit als auch der interpersonalen Richtigkeit und der intersubjektiven Verständlichkeit.

 

Explizit thematisiert die Wahrhaftigkeit die subjektive Wahrheitserkenntnis in jeder Aussage, die man ›präkonventionell‹ für etwas Wahres hält, wenn man absolut eine objektiv wahre Aussage gemäß dem Ansatz Mucks bejaht. Konventionell lässt sich der formale Wahrheitsaspekt als normengeleitete Richtigkeit der relativ bejahbaren Aussagen im Laufe des Erkenntnisprozesses, der das menschliche Gehirn und seine Kognition kraft der kommunikativen Interaktion des Bewusstseins vergesellschaftet, mit Hilfe der interpersonalen Beziehungen rechtfertigen. Hinzu schließt die Wahrheit postkonventionell in intersubjektive Kommunikations- und Argumentationsprozesse, die sich durch den Anspruch auf gegenseitige Verständlichkeit orientieren lassen, einen im semiotischen Sinne pragmatischen Aspekt ein, um diskursiv im Lichte der absolut nach Art von Muck bejahbaren Prinzipien begründen zu werden.

 

Zum Schluss lässt sich doch kritisch sagen, dass Elemente der Habermas’schen Wahrheitsauffassung sich theoretisch aus der Perspektive des materialen, formalen und pragmatischen Wahrheitsaspekts weiterentwickeln lassen. Z.B. können die universalen Geltungsansprüche als allgemeine Kommunikations- und Argumentationsvoraussetzungen im engsten Sinne keineswegs der Annahme allgemeiner Prinzipien widersprechen, deren materialer Inhalt objektiv über die historischen und soziokulturellen Kontexte hinausgehen kann. Außerdem lassen sich allgemeine Prinzipien, die sowohl diskursiv ›normenbegründend‹ als auch ›erkenntnisleitend‹ sind, absolut nach Art von Muck bejahen. D.h. auf gut Deutsch schließt das eine das andere nicht aus. In einem anderen Bereich soll Habermas explizit den formalen Ursprung des Irrtums erklären, nicht nur die formale Wahrheitsrechtfertigung. Übrigens entspricht seine Universalpragmatik in der Alltagspraxis den Anforderungen weder anderer Kulturen noch anderer Gesprächspartner die aufgrund ihrer verschiedenen Weltanschauungen mit den nordamerikanischen, europäischen Philosophien Weniges teilen und andere Konnotationen des pragmatischen Wahrheitsaspekts hervorheben. Z.B. fassen lateinamerikanische Philosophen besagten Aspekt als Befreiungspraxis auf.

 

Kann uns die Habermas’sche Wahrheitsauffassung vielleicht zur postdiskursiven Deutung der kommunikativen Interaktion des menschlichen Bewusstseins im Rahmen des Denkens aus Lateinamerika verhelfen? Mit der positiven Antwort darauf soll man einräumen, dass besagte Wahrheitsauffassung anhand der folgenden Elemente ihren Beitrag zu solcher Deutung leistet: Der Unterschied zwischen Wahrheit und Rechtfertigung, der Wahrheitsbezug auf die objektive, subjektive, interpersonale und intersubjektive Welt, denn gewiss lässt sich die Objektivität durch die Subjektivität, die interpersonalen Beziehungen und die Intersubjektivität zwischen den Gesprächspartnern vermitteln.

 

Alles in allem ermöglicht die diskursive Rationalität eine dynamische Auffassung der Wahrheit, deren universalpragmatischer Realismus auf die wirkliche Welt Bezug nimmt und in der Lebenswelt verwurzelt. Von der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit ausgehend, die nach Art von Muck auch absolut bejahbar sein kann, kann das Bewusstsein jedes Dialog- bzw. Gesprächspartners kommunikativ interagieren. Im Hinblick auf die postdiskursive Deutung seiner kommunikativen Interaktion, die in Anlehnung an den Ansatz von E. Dussel aus Lateinamerika im nächsten und letzten Kapitel dieser Dissertation vorgeschlagen wird, lässt sich das Instrumentarium dazu kurz im Anschluss vorbereiten.

 

 

 

 

[1] In diesem Zusammenhang schreibt Muck folgendes: «Ein solcher Dialog ist aber ein Prozess, der nicht abgeschlossen ist». Ders., »Dialog und Wahrheit«, in: Revista Portuguesa de Filosofia (62; Facultade Pontificia de Filosofia, Braga 2006), S. 248.

 

[2] Vgl. ebd., S. 245.

 

[3] Vgl. ebd., S. 246.

 

[4] Vgl. ebd., S. 247.

 

[5] Die Wörter „Denotation“ und „Konnotation“ werden in dieser Dissertation gemäß der Bedeutung, die Barthes im folgenden Text verwendet, gebraucht: «On se rappelle que tout système de signification comporte un plan d’expression (E) et un plan de contenu (C) et que la signification coïncide avec la relation (R) des deux plans : E R C. On supposera maintenant qu’un tel système E R C devienne à son tour le simple élément d’un second système, qui lui sera de la sorte extensif ; on aura ainsi affaire à deux systèmes de signification imbriqués l’un dans l’autre, mais aussi décrochés l’un par rapport à l’autre[…] ; le premier système constitue alors le plan de dénotation et le second système (extensif au premier) le plan de connotation». BARTHES, Roland, »Eléments de sémiologie«, in: Œuvres complètes (Du Seuil, Tours 1993), Bd. 1, S. 1517. Übersetzungen auf Deutsch gebrauchen die folgenden Wörter: Denotation, Konnotation, „Konnotator“ und „denotiert“. Vgl. ders., Elemente der Semiologie (Syndikat, Frankfurt 19812), S. 75 ff.

 

[6] Diesbezüglich schreibt Muck folgendes: «Unterscheiden wir also vernünftiges und in diesem Sinn berechtigtes Für-wahr-Halten einer Meinung durch eine Person von der Wahrheit dieser Meinung». MUCK, Otto, »Dialog...«, S. 246.

 

[7] Vgl. ebd., S. 249. Vgl. ders., Rationalität..., S. 63 ff.

 

[8] Ders., »Dialog...«, S. 248.

 

[9] Vgl. ebd.

 

[10] Vgl. ebd., S. 249.

 

[11] AQUIN, Thomas von, Summa theologica, I, q. 16, a.1; I, q. 21, a. 2 (Anton Pustet, Salzburg/Leipzig 1934), B. ????, S. 81.203.

 

[12] Vgl. MUCK, Otto, Rationalität..., S. 81-83.

 

[13] Vgl. HABERMAS, Jürgen, Wahrheit…, S. 9.18.23.25.

 

[14] Ders., Vorstudien…, S. 128.

 

[15] Ebd., S. 355.

 

[16] Vgl. MUCK, Otto, Rationalität..., S. 83.

 

[17] Besagtes Thema betreffend schreiben Johannes a Sancto Thoma und Pio de Mandato folgendes: «Et ideo veritas formalis invenitur in hoc iudicio». JOHANNES, a Sancto Thoma, Cursus philosophicus thomisticus, III, q. 11. a. 3 (Marietti, Turin 1937), S. 557. Dieser Text kann auch im Internet unter http://www.documentacatholicaomnia.eu/03d/1589-1644,_Ioannes_a_Sancto_Thoma,_Cursus_Philosophicus_Thomisticus,_LT.pdf nachgelesen werden. «Ergo in iudicio assequimur veritatem formalem. [...] Ergo in eo actu, quo intellectus componit intentionaliter formam apprehensam cum re existente, consistit veritas formalis nostri intellectus». MANDATO, Pio de, Institutiones philosophicae ad normam doctrinae Aristotelis et S. Thomae Aquinatis studiosae iuventuti (Prati, Rom 1895), S. 126-127.

 

[18] MUCK, Otto, Rationalität..., S. 83-84.

 

[19] Ebd., S. 84.

 

[20] Ebd., S. 85.

 

[21] Vgl. ebd., S. 87.

 

[22] Vgl. ebd., S. 92.

 

[23] Vgl. ebd.

 

[24] Ebd., S. 97.

 

[25] Vgl. HABERMAS, Jürgen, Vorstudien…, S. 427.440.

 

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