top of page

3.1 ›Weicher‹ naturalistischer, universalpragmatischer Ansatz

 

Im Dialog mit dem Determinismus ›deflationiert‹ Habermas den ›inflationierten Begriff‹[1] einer beinahe unbedingten Freiheit, deren Ansicht bestimmte Denker der Bewusstseins- und Subjektivitätsphilosophie vertreten. Laut Habermas lässt sich die menschliche Freiheit durch Einflüsse und Einwirkungen sowohl der äußeren und inneren Natur als auch der sozialen Natur und Sprache bedingen, deren Begriffe auf Realitätsbereiche bzw. Realitätsdimensionen Bezug nehmen. Obgleich die Freiheit sich biologisch, psychologisch, sozial, kulturell und sogar sprachlich[2] durch den Determinismus besagter Realitätsdimensionen bedingen lässt, distanziert sich Habermas vom ›szientistischen‹ Naturalismus. Nicht nur kritisch stellt solcher Szientismus die menschliche Freiheit in Frage, sondern er zieht sie auch im Großen und Ganzen in Zweifel und widerlegt um jeden Preis zugunsten seiner ideologischen Interessen ihre Existenz, z.B. im Hinblick auf die Selbstinstrumentalisierung des Menschen und auf die Manipulation seiner Natur.

 

Aus diesem Grund wendet Habermas gegen die deterministische Auffassung von Neurologen und Vertretern der Kognitionsforschung ein, «wonach eine kausal geschlossene Welt für die Freiheit der Wahl zwischen alternativen Handlungen keinen Platz lässt».[3] Im Gegensatz dazu argumentiert Habermas bescheiden für eine bedingte Freiheit und gegen ›szientistische‹ Naturalisten, die ab und zu mittels reduzierender Forschungsstrategien ihre Perspektiven einschränken. Z.B. reduzieren sie einzig und allein ihre Beobachtungen auf die psychologischen Bedingungen des Verhaltens und auf die Spezifikation der Naturgesetze im einseitigen Bereich der kausalen Verknüpfung neuronaler Zustände. Von diesen Voraussetzungen ausgehend ziehen besagte Naturalisten manchmal voreilige Schlüsse und halten im Voraus sowohl die Freiheit des Entscheidungsvermögens bzw. Willensfreiheit als auch die faktische Wahlfreiheit und das menschliche Freiheitsbewusstsein einfach für reine Selbsttäuschung und bloße Epiphänomene.

 

Daher kritisiert Habermas’ ›weicher‹ Naturalismus den Geistesmonismus, aus dessen Perspektive Bewusstseins- und Subjektivitätsphilosophen theoretisch die Ansicht von oben betrachten, und den Naturmonismus, den szientistische Naturalisten von unten ansetzen. Obwohl sie sich oft zueinander gegensätzlich verhalten, sind übertrieben deterministische Thesen und Schlussfolgerungen des ›Monismus von unten‹ laut Habermas überhaupt nicht wissenschaftlicher als die Voraussetzungen des ›Monismus von oben‹.[4] Deshalb können deterministische Thesen bisweilen nicht naturwissenschaftlich begründet werden und scheinen eher Deutungen einer naturalistischen Weltanschauung als schlagende Beweise und rein wissenschaftliche Erkenntnisse zu sein. Z.B. ist der neurobiologische Determinismus im Rahmen des Alltagslebens ziemlich unrealistisch und äußerst unpraktisch, denn auf der ganzen Linie schreibt er einzig und allein dem Gehirn anstelle des Bewusstseins die grammatische Rolle des ›Ich‹ zu. Wie kann jeder Mensch im Alltag moralisch unter solchen Umständen zurechnungsfähig sein und verantwortlich seine anthropologische Urheberschaft übernehmen? Wie können die Institutionen einer Gesellschaft praktisch funktionieren, wenn niemand für nichts verantwortlich ist?

 

Mit beiden Monismen debattiert Habermas über das Verhältnis von Freiheit und Determinismus, angesichts dessen sich sein ›weicher‹ Naturalismus mit dem Thema über die richtige Weise der Geistesnaturalisierung auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang versucht der Habermas’sche Naturalismus mit Hilfe der Universalpragmatik, das Freiheitsbewusstsein, das Menschen in ihren alltäglichen Handlungen erfahren, mit den Bedingungen der Verkörperung des Menschen als Naturwesens bzw. Naturstücks in der Welt in Einklang zu bringen. Aufgrund der Verflochtenheit mit der Natur, mit der sich die Vernunft des Menschen als vernünftigen Lebewesens verwebt, ›deflationiert‹ Habermas im Lichte der Universalpragmatik den transzendentalen Vernunftbegriff Kants, mit dem die naturalistische Menschenauffassung Darwins gemäß Habermas vereinbar ist. In Anbetracht dieser Detranszendentalisierung kritisiert dieser letztere, der sich aus philosophischen Gründen für die kommunikative Interaktion zwischen dem Bewusstsein und Gehirn ausspricht, folgendermaßen den Geistes- und ›szientistischen‹ Gehirnmonismus:

 

«Das komplexere Bild der Interaktion zwischen einem Gehirn, das den Geist determiniert, und einem Geist, der das Gehirn programmiert, ist Ergebnis philosophischer Reflexion und nicht selbst naturwissenschaftliche Erkenntnis. Ich vertrete einen nicht- szientistischen oder »weichen« Naturalismus».[5]

 

Von diesem Standpunkt aus ist er als Naturalismus sowohl mit der Erfahrung der Naturwissenschaften als auch mit der Erfahrung der Beobachterperspektive, die den Ich-Du-Perspektiven gegenübersteht, vereinbar. Abgesehen davon lässt er sich als ›deflationierter‹ bzw. ›weicher‹ Naturalismus logischerweise mit den Ich-Du-Perspektiven der Teilnehmer an Kommunikationsvorgängen, während deren sie über ihre verantwortlichen Handlungen entscheiden und sich ihrer Freiheit bewusst werden, und mit der epistemologischen Bescheidenheit des nachmetaphysischen Denkens, in dessen Kommunikationsphilosophie die detranszendentalisierte Vergesellschaftung und Universalpragmatik gleichzeitig zusammenfließen, in Einklang bringen.

 

Zugunsten der menschlichen Freiheit wendet Habermas kritisch gegen den stark epiphänomenalistischen Reduktionismus ein (1) und argumentiert eben aus der Perspektive der natürlichen Evolution für die Interaktion zwischen physischer Natur und Geist, d.h. zwischen dem Gehirn und Bewusstsein, aufgrund der Natur-, Kognitions- und Gehirnvergesellschaftung (2).

 

 

 

 

[1] Vgl. ders., Zwischen Naturalismus…, S. 165.

 

[2] Z.B. können die Strukturen einer bestimmten Sprache zwar die Denkart der Menschen beeinflussen, begrenzen und einschränken, aber ihnen erlauben die universalen Kategorien ihrer Vernunft, sich gegenseitig zu verstehen und sich miteinander über etwas Bestehendes in der objektiven, subjektiven, soziokulturellen und sprachlichen Welt zu verständigen.

 

[3] Ebd., S. 155.

 

[4] Vgl. ebd., S. 170.

 

[5] Ebd., S. 157.

 

bottom of page