top of page

3.2.1 Alltägliche Freiheitsbewusstsein

 

 

Oft verzerren Ideologien systematisch die Kommunikation und möchten eben den Menschen verdinglichen und manipulieren, als ob er ein instrumentell verfügbares Mittel für die Erlangung des Erfolgs um jeden Preis wäre. Gegen die szientistischen Manipulationsversuche versichert die unverwechselbare Identität jedes Menschen seine instrumentelle Unverfügbarkeit, weil jeder unersetzlich ist. Außerdem entspringt das Freiheitsbewusstsein jedes Menschen freilich keiner anonymen Quelle, sondern genau seinem jeweiligen Ich, mit dem sich jeder Mensch persönlich identifiziert. Diesbezüglich kritisiert Habermas folgendermaßen den Kantischen Begriff vom „freien Willen“ des transzendentalen Subjekts, da es ihm nicht nur an Vergesellschaftung mangelt, sondern auch an ›Individuierungskraft‹:

 

«Kant lokalisiert die Quelle des Selbstbezuges in der transzendentalen Subjektivität des freien Willens, im noumenalen Ich. […] Diesem freien Willen fehlt, weil er seine Struktur einer unpersönlichen Vernunft verdankt, die individuierende Kraft».[1]

 

Aufgrund besagten Mangels übernimmt Habermas’ Detranszendentalisierung die Adornosche Auffassung vom „Ich als Naturstück“, um den Kantischen Begriff vom „freien Willen“ zu vergesellschaften und zu individuieren. Mitsamt Adorno vertritt Habermas die These über die Naturverflochtenheit der Vernunft, d.h. über die Verkörperung des Ich als Naturstücks in der Welt. In diesem Sinne ist die Natur der Adornoschen Meinung nach ein Aspekt der Vorgeschichte der Vernunft und folglich des Bewusstseins, obwohl die Vernunft selbstverständlich anders als die Natur ist. Insofern verflechten sich die handelnden Subjekte mit ihrer natürlichen Herkunft und können frei handeln, solange sie auch der Natur angehören und mit ihr verbunden bleiben.

 

Von diesem Standpunkt aus beschreibt Habermas im Lichte der Adornoschen Phänomenologie des alltäglichen Freiheitsbewusstseins handelnden Subjekts den Vollzug der Handlung und das intuitiv mitlaufende Freiheitsbewusstsein besagten Subjekts im Alltagshandeln. Laut Habermas ist besagtes Freiheitsbewusstsein, das stillschweigend den Vollzug aller unseren Handlungen begleitet, implizites Handlungsbewusstsein. Wer frei handelt, befindet sich immer schon interaktiv in Zusammenhang mit anderen Handelnden in einem intersubjektiven Raum.[2] Auf diese Weise verliert der transzendentale Freiheitsbegriff im intersubjektiven Horizont der Vergesellschaftung ja seine ›solipsistischen‹ Umrisse, denn bei Habermas lässt sich die Bewusstseinsauffassung weder auf die subjektiven Erlebnisse noch auf die Selbstbeobachtung des Subjekts reduzieren. Wer auf Basis von interaktiv rechtfertigungsfähigen Gründen einen vernunftgeleiteten bzw. überlegten Entschluss fasst, kann absichtlich handeln und zurechnungsfähig sein. Im Alltagshandeln fühlt er sich dann intuitiv frei und wird sich seiner Freiheit nur bewusst, wenn er absichtlich seine Handlungen durchführt und wenn er interaktiv vor anderen Handelnden seine Gründe rechtfertigen kann.

 

Mit besagtem Freiheitsbewusstsein verweben sich die Gründe des Handelns und Lebensgeschichte des Handelnden. Auf der einen Seite bilden die überlegten Gründe und der interaktive Austausch von Gründen den logischen Raum für die Entfaltung der vernunftgeleiteten Fähigkeiten des freien Willens und folglich des Freiheitsbewusstseins. Obgleich sich die bedingte Freiheit des Menschen auf Basis von überlegten Gründen für etwas Überzeugendes entscheidet,[3] spielen sie im engsten Sinne eher die Rolle einer logisch-semantischen Verknüpfung von Argumenten und Normen als die Rolle einer ›nomologischen‹ Verknüpfung von Zwängen und Gesetzen der Natur. Daher schränkt keine Entscheidung als freie Selbstbestimmung die menschliche Freiheit ein, denn sich bestimmen zu lassen, ist keine ursächliche Freiheitseinschränkung, sondern die Freiheit wird von überlegten Gründen ermöglicht.[4]

 

Auf der anderen Seite bedingt die individuierende Lebensgeschichte den biographischen Kontext für die verkörperte Erfahrung des Freiheitsbewusstseins jedes Handelnden als Leibs, dessen Individuierungszüge sich erst im Laufe seiner Lebensgeschichte spezifizieren lassen. Gemeinsam gestalten sowohl der Leib als auch die Lebensgeschichte jedes Handelnden den Bezugspunkt der Handlungen, die ihm zugerechnet werden. Insofern konstituiert die Verkörperung, leibliche Existenz bzw. organische Verwurzelung in der Natur die biologische Bezugsbasis nicht nur des Lebens, Handelns und Bewusstseins jedes Menschen, sondern auch die somatische Bezugsbasis der Ich-Instanz als ›Selbst-Identität‹ jedes individuierten Handelnden, der ihm selbst als Urheber kraft der eigenen Zurechnungsfähigkeit seine Handlungen zuschreibt.

 

Wer sich seiner Freiheit bewusst ist, solange er handelt, versteht sich selbst als Urheber seines Handelns im Allgemeinen und seiner moralischen Handlungen im Besonderen. Auf diese Weise verbinden sich die Selbstzuschreibung und das Handeln mit dem Urheberschaftsbewusstsein eines Menschen, der eine Initiative ergreift, einen Entschluss fasst usw. In der Folge kann uns die Auffassung der leiblichen Existenz als organischer Verwurzelung des Menschen in der Natur im Rahmen der Adornoschen Phänomenologie zur Detranszendentalisierung des Kantischen Freiheitsbegriffs verhelfen, denn die menschliche Freiheit ist ›naturverflochten‹.

 

 

 

 

[1] Ebd., S. 193. Ungeachtet seiner Kritik an der transzendentalen Subjektivität lässt sich Habermas durch den so genannten ›Kantischen Pragmatismus‹ inspirieren, seine detranszendentalisierte ›Kantische Universalpragmatik‹ zu entwickeln. Einerseits kritisiert Habermas das monologische Subjekt nach Art von Kant, andererseits strebt Habermas nach einer Ethik, die so allgemein gültig wie der kategorische Imperativ Kants ist. Aus diesem Grund gibt es ab und zu Ähnlichkeiten zwischen ihren Ansätzen und diesbezüglich schreibt McCarthy folgendes: «There are indeed a number of parallels between the two, and in a sense communicative ethics can be viewed as a reconstruction of Kantian ethics. […]. I mentioned Habermas’s critique of the “monological” presuppositions of Kantian ethics. […] The point of this criticism is evidently that the rationality und universality of maxims of action cannot be decided monologically —within the horizon of the solitary, reflecting moral consciousness». McCARTHY, Thomas, The critical…, S. 325-326.

 

[2] Vgl. HABERMAS, Jürgen, Zwischen Naturalismus…, S. 191.

 

[3] Gründe sind überzeugend, wenn sie intersubjektiv in praktischen Abwägungsprozessen für eine reife Entscheidung den Ausschlag geben.

 

[4] Vgl. ebd., S. 196.

 

bottom of page