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3.1.2 Kommunikative Interaktion und Vergesellschaftung

 

 

Habermas’ ›weicher‹ Naturalismus fängt begrifflich den epiphänomenalistischen Reduktionismus auf, dessen harte Kausalerklärungen sich prinzipiell mit Hilfe der Universalpragmatik abschwächen lassen. Unter diesem Gesichtspunkt verteidigt Habermas einen mäßigen und naturalismusfreundlichen Monismus, wonach sowohl unsere kognitiven Gehirnfunktionen und Geist als auch unsere physische Natur und Kultur aufgrund der Vergesellschaftung des Menschen in Wechselwirkung zueinander stehen, mit Argumenten zugunsten der kommunikativen Interaktion zwischen dem menschlichen Gehirn und Bewusstsein.

 

Infolge besagter Interaktion verweben sich ›deflationierte‹ Kausalerklärungen im nachmetaphysischen Denken mit vernünftigen Erklärungen und daher lassen sich Handlungen nicht nur aus Ursachen erklären, sondern auch aus Gründen (1). Wenn die Neurophilosophie jenseits des methodologischen Dualismus die Natur-, Kognitions- und Gehirnvergesellschaftung in Erwägung zieht, kann sie die ursprüngliche Verknüpfung des Neurobiologischen mit dem Bewussten im Rahmen des Paradigmas der intersubjektiven Kommunikationsphilosophie auffassen (2). In diesem Bereich scheint die These über die kommunikative Interaktion zwischen der individuellen Rolle des Gehirns und Bewusstseins auf der einen Seite und der soziokulturellen Rolle der Vergesellschaftung mit Hilfe von Kommunikationsvorgängen in Sprach- und Kooperationsgemeinschaften auf der anderen Seite plausibel zu sein (3).

 

1) Dem ›weichen‹ Naturalismus zufolge können die Erklärungsperspektiven der Handlung insofern zweifach sein, als jeder Mensch als neutraler Beobachter und interaktiver Teilnehmer jeweils über einen ›bifokalen‹ Weltzugang verfügt, nämlich Erklärungen aus der Perspektive der Ursachen zum einen und aus der Perspektive der Gründe zum anderen. Den Ursachen und Gründen entsprechen epistemische Erklärungsperspektiven und theoretische Wissensformen, die methodologisch aufeinander irreduzibel und miteinander vereinbar sind. Weil sie einerseits unterschiedliche Ontologien voraussetzen, sind sie aufeinander irreduzibel und andererseits im Rahmen der kosmologischen Einheit des Makro- und Mikrouniversums mitsamt der anthropologischen Sicht des Menschen als vergesellschafteten Stücks der Natur miteinander vereinbar. Auf dem Wege des mäßigen Monismus erhebt Habermas im Gegensatz zum epiphänomenalistischen Reduktionismus des ›szientistischen‹ Naturalismus seinerseits Anspruch auf eine ›deflationierte‹ bzw. abgeschwächte Naturalisierung des Geists.

 

Laut dem ›weichen‹ Naturalismus darf und muss jeder von uns jeweils aus beiden Perspektiven die Welt betrachten, denn jeder ist jeweils Beobachter und Teilnehmer in einer selben Person, d.h. neutraler Zuhörer bzw. Zuschauer und interaktiver Beteiligter bzw. Betroffener. Auf diese Weise steht die Rolle der dritten Person als Beobachters mit den Rollen der ersten und zweiten Person als Sprechers und Hörers im Zusammenhang.

 

Davon ausgehend kann die Erkenntnistheorie epistemologisch aus der unparteiischen Er-Perspektive die Objektivität der Welt nur bestätigen, wenn der Beobachter intersubjektiv interagiert, um sich mit anderen über etwas in der Welt zu verständigen. Folglich verlangt die Objektivität interaktive Kommunikationsvorgänge, während deren die Ich-Du-Er-Perspektiven aufgrund der Intersubjektivität und Vergesellschaftung des Beobachters in kommunikativer Wechselwirkung zueinander stehen.

 

Wer etwas Objektives ausdrücken will, soll die Sprache gebrauchen, deren Grundfunktionen gleichursprünglich Tatsachendarstellung der objektiven Welt und Kommunikation der intersubjektiv geteilten Lebenswelt ineinander greifen. Demnach fokussieren das Objektive und Intersubjektive methodologisch den Unterschied zwischen den Ich-Du-Er-Perspektiven, aus denen nicht nur die Begriffe von Ursachen und Gründen miteinander vereinbar sind, sondern auch die vergesellschafteten Auffassungen von Erfahrung, Kognition und Bewusstsein. In diesem Zusammenhang verknüpft uns die Erfahrung mit einer Lebens- und Umwelt, solange die Kognition z. T. ein Vergesellschaftungsvorgang und das Bewusstsein sowohl etwas sozial Kognitives als auch etwas interaktiv Moralisches ist. Im folgenden Text spezifiziert Habermas das Verhältnis von der Erfahrung, Kognition und Bewusstsein zu den Ich-Du-Er-Perspektiven:

 

«In der komplementären Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive wurzeln nicht nur die soziale Kognition und die Entwicklung des moralischen Bewusstseins, sondern auch die kognitive Verarbeitung von Erfahrungen, die uns in der Konfrontation mit der natürlichen Umwelt zustoßen».[1]

 

Wenn die Ich-Du-Er-Perspektiven komplementär sind, sollen sich die Erfahrung, Kognition und Bewusstsein, die tief im Boden besagter Perspektiven Wurzeln schlagen, gegenseitig während der kommunikativen Vorgänge ihrer interaktiven Vergesellschaftung ergänzen.

 

Wer Anspruch auf die Wissensgeltung erhebt, soll intersubjektiv vor etlicher Kommunikationsgemeinschaft aus den Beobachter- und Teilnehmerperspektiven seine Erfahrung, Kognition und die Überzeugungen seines kognitiven und moralischen Bewusstseins von Ursachen und Gründen ausgehend rechtfertigen. Da Ursachen und Gründe unselbständige Bestandteile der gültigen Wissensrechtfertigung sind, schränken die alleinigen Ursachen insoweit die Geltung der Erklärungsperspektiven und Wissensformen ein, als ihr Reduktionismus epiphänomenalistisch und offensichtlich einseitig ist.

 

2) Im Gegensatz zum methodologischen Dualismus verknüpft Habermas im Rahmen der Intersubjektivitätsphilosophie, deren Vergesellschaftungstheorie weit von ihm entwickelt worden ist, die neurobiologischen Gehirnfunktionen mit den kognitiven und moralischen Aspekten des menschlichen Bewusstseins. Im Lichte dieser Verknüpfung lässt sich der Kognitionsvorgang vergesellschaften und die Objektivität verwebt sich mit der Intersubjektivität, denn ohne die Intersubjektivität der Verständigung mangelt es uns an interaktiven Gründen für die Rechtfertigung der Erfahrungsobjektivität. Bezüglich des Verhältnisses von Lernvorgängen und Gesellschaft schreibt Habermas folgendes:

 

«Die sozial-evolutionären Lernprozesse können weder der Gesellschaft noch den Individuen alleine zugerechnet werden. Wohl trägt das Persönlichkeitssystem den Lernvorgang der Ontogenese; und in gewisser Weise sind es allein die vergesellschafteten Subjekte, die lernen. […] Insofern ist der evolutionäre Lernprozeß der Gesellschaften abhängig von den Kompetenzen der ihr zugehörigen Individuen. Diese wiederum erwerben ihre Kompetenzen nicht als vereinzelte Monaden, sondern indem sie in die symbolischen Strukturen ihrer Lebenswelt hineinwachsen».[2]

 

In ähnlicher Weise, wie objektive Wissens- und intersubjektive Lebensformen gleichzeitig entstehen, kann die Kultur mit der Natur zusammengehen. Daher möchte Habermas eben mit Hilfe der Universalpragmatik den Naturalismus vergesellschaften und mitsamt der Detranszendentalisierung der Philosophie und Deflationierung des Naturalismus zusätzlich Kant mit Darwin versöhnen. Aus einer universalpragmatischen Sicht können die Ansätze von Kant & Darwin in einem ›weichen‹ Naturalismus zusammenfließen, dessen Weltzugang von einem evolutionären Lernprozess, der sowohl die Perspektive der Beobachter als auch die Perspektive der Teilnehmer als Sprecher und Adressaten einschließt, und folglich von intersubjektiven Vergesellschaftungsvorgängen ermöglicht wird. Auf diese Weise lässt sich das menschliche Gehirn vergesellschaften und findet an ein kulturelles Milieu Anschluss.

 

Während besagter Vorgänge sind wir Menschen als Neugeborene vom ersten Lebensaugenblick an wegen unserer Hilfsbedürftigkeit im Laufe einer langen Entwicklungsperiode ›unfertig‹ und von der sozialen Wechselwirkung abhängig, deren Vergesellschaftungsrolle im Vergleich zu anderen Spezies kommunikativer ist. Mit dem Spracherwerb lernen Kinder fortschreitend die Personalpronomina beherrschen und bis zur Pubertät begünstigen pädagogische Erziehungs- und Erfahrungsprozesse die physiologische Entwicklung der Nervennetze. Inzwischen beeinflussen die Gesellschaft und Kultur bis zur Adoleszenz die Entfaltung der zukünftigen Fähigkeiten des Gehirns und dadurch spielen die Interaktionen zwischen den Ich-Du-Er-Perspektiven bei der Kognitionsvergesellschaftung jedes Heranwachsenden in Beziehung mit anderen Gesprächspartnern eine zentrale Rolle.

 

In diesem Zusammenhang bedingt das menschliche Gehirn zwar einerseits die Handlungsfreiheit, aber andererseits programmieren kulturelle Überlieferungen und gesellschaftliche Praktiken besagtes Gehirn. Aufgrund dieser gegenseitigen Wechselwirkung zwischen dem Gehirn und der Kultur müssen die neuronalen Prozesse des Denkens «eine gedankliche Programmierung des Gehirns nicht ausschließen»[3] und übrigens lassen sich weder die Natur und der Geist noch das Gehirn und Bewusstsein aufeinander reduzieren.

 

3) Obwohl die These über die geistige Programmierung des Gehirns umstritten ist, kann man mit den folgenden drei Argumenten die Plausibilität sowohl der These über die kommunikative Interaktion zwischen dem Bewusstsein und Gehirn als auch der Habermas’schen These über die Wechselwirkung zwischen seiner jeweiligen ›Individuierung‹ und Vergesellschaftung verteidigen.

 

a) Das Bewusstsein lässt sich weder auf die neurobiologischen Hirnfunktionen reduzieren, noch spielen die Gründe aus der Perspektive des Geists die Rolle einer kausalen Einwirkung auf beobachtbare Prozesse im Gehirn. Physiologisch sind besagte Funktionen niemals unmittelbar, sondern sie sind mittels eines evolutionären Lernprozesses eines kollektiven Wissens, das von der Kultur der vergangenen Generationen dem Gehirn vermittelt wird, dadurch möglich. Z.B. erwirbt jedes individuelle Gehirn mit Hilfe der Sprache die notwendigen Dispositionen für seinen Anschluss an die soziokulturellen Überlieferungen.[4] In diesem Sinne übt die ›strukturbildende‹ Kraft der Kognitionsvergesellschaftung auf das individuelle Gehirn und Bewusstsein einen Einfluss aus.

 

Solange die Kognitionsvorgänge vergesellschaftet werden, entfalten Beobachter und Teilnehmer die Fähigkeiten ihres Gehirns zur kommunikativen Interaktion, deren jeweiliges Bewusstsein sich stufenweise während besagter Interaktion ›individuieren‹ lässt. Ungeachtet der Unterschiede zwischen ihnen können das Gehirn und Bewusstsein miteinander interagieren, weil der Geist und das Bewusstsein tatsächlich nur dank ihrer Verkörperung in jedem Menschen mit seinem Gehirn in der Welt bestehen und weil die kommunikative Interaktion des Bewusstseins die kognitiven Vorgänge seines Gehirns vergesellschaftet. Insofern ist der Dualismus aufgrund der Interaktion zwischen dem Bewusstsein und Gehirn inkohärent und wegen der Unterschiede zwischen ihnen ist der Reduktionismus unplausibel. Folglich lässt sich das Bewusstsein weder auf das alleinige Gehirn reduzieren, noch lässt sich jedes von ihnen getrennt aus bloß philosophischen Prinzipien und aus reinen Naturgesetzen erklären.

 

b) Obgleich neuronale Vorgänge des Bewusstseins von unbewussten Prozessen abhängen, lässt es sich überhaupt nicht grob auf das Unbewusste reduzieren. In chronologischer Reihenfolge hat das Unbewusste freilich den Vorrang vor dem Bewusstsein, dessen Prozesse sich durch deterministische Naturgesetze infolge seines Ursprungs von den unbewussten Prozessen ausgehend bedingen lassen. Solange diese letzteren dem Determinismus der Naturgesetze unterliegen, gehen bewusste Vergesellschaftungsprozesse über ihn teilweise aufgrund der Überlegung hinaus, im Lichte deren man als vergesellschaftetes Individuum bzw. Mitglied einer Kommunikationsgemeinschaft bewusste Entscheidungen treffen kann. Demnach ist die bedingte Willensfreiheit zwar lediglich in der Dimension der überlegten Entscheidungen möglich, aber bewusste Prozesse hängen z. T. ja vom Organischen ab und kommunikativ von ihm ausgehend interagieren, da sie im Gehirn stattfinden. Habermas zufolge spiegelt das Leibbewusstsein besagte Abhängigkeit der bewussten Prozesse vom organischen Substrat wider und mitsamt dem eigenen Leib bedingen sowohl der eigene Charakter als auch die eigene Lebensgeschichte u. a. die individuelle Freiheit jedes Handelnden.

 

c) In gewissem Sinn ist das ›Ich‹ zwar eine soziale Konstruktion, aber deshalb ist es als Instanz des Selbstverständnisses eines Urhebers keine individuelle Illusion. Bisweilen versuchen Neurobiologen und Philosophen, das so genannte ›Selbst‹ als Ich-Instanz durch eine neurobiologische Kommandozentrale des Gehirns zu ersetzen, d.h. durch eine isolierte Bewusstseinsmonade, die alles koordiniert, und vergeblich durch ein einziges Konvergenzzentrum aller Gehirnkontrollen. Paradoxerweise verfügen etliche Ersetzungsversuche über Vorstellungen, die Erbe des Paradigmas der subjektzentrierten Bewusstseinsphilosophie sind und deswegen das Thema der Kognitionsvergesellschaftung verfehlen.

 

Im Gegensatz dazu nimmt das ›Ich‹ gemäß dem Habermas’schen Ansatz eben keine privilegierte Stellung ein, weil es nur als ein bescheidener Bestandteil eines interaktiven Systems von Personalpronomina seine Funktionen erfüllt. Innerhalb besagten Systems spinnt die Ich-Instanz in Zusammenarbeit mit den zweiten und dritten Personen, deren symmetrische Beziehungen jeweils umkehrbar sind, ein dezentriertes und übergreifendes Kommunikationsnetz. Aus diesem Grund kann jedes individuelle Gehirn seine Fähigkeiten nur entfalten, wenn es sich interaktiv irgendeinem Sprecher, Adressaten und Beobachter anschließt.[5] Daher hat der Anschluss an die vergesellschaftenden Kommunikationsrollen der Er-Du-Ich-Instanzen unser Gehirn entwickelt, deren reziprok austauschbare Rollen jedem Einzelnen zu seiner Einbettung in den öffentlichen Raum der Wechselwirkung und Argumentation mit Gründen verhelfen. Auf diese Weise sind Menschen als vergesellschaftete Individuen und verantwortliche Urheber fähig gewesen, allgemeine Geltungsansprüche sowohl auf die Wahrhaftigkeit und Richtigkeit als auch auf die Wahrheit und Verständlichkeit zu erheben und die Freiheit ihrer Handlungen mit Hilfe von überlegten Gründen zu rechtfertigen.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der irreduzible Unterschied zwischen dem Gehirn und Bewusstsein, den Ursachen und Gründen, dem Unbewussten und Bewusstsein, der neurobiologischen Kommandozentrale und Ich-Instanz auf dem Wege der Universalpragmatik und des ›weichen‹ Naturalismus die Plausibilität der These über die kommunikative Interaktion des menschlichen Bewusstseins bestätigt, dessen ›Individuierung‹ und Vergesellschaftung in kommunikativer Wechselwirkung zueinander stehen. In der Folge soll man auf die kritische Frage nach der instrumentellen Unverfügbarkeit der naturbedingten Freiheit des Menschen eben dadurch antworten, dass harte Kausalerklärungen des ›szientistischen‹ Naturalismus oft unter dem Strich zu einer ideologischen Selbstinstrumentalisierung der Menschengattung neigen.

 

 

 

 

[1] Ebd., S. 174.

 

[2] Ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus (Suhrkamp, Frankfurt 1976), S. 169-170. Zum Thema des vergesellschafteten Subjekts kommentiert Linkenbach folgendes: «Die Alternative eines Praxis-Ansatzes kreist um die Grundidee, daß das gesellschaftliche Subjekt (auch das Alltagssubjekt) immer schon in sozialen Verhältnissen lebt und handelt, und daß diese Verhältnisse gleichzeitig Voraussetzung und Resultat seiner (reproduzierenden und verändernden) Tätigkeit sind». LINKENBACH, Antje, Opake Gestalten…, S. 295. Dazu fügt K. Pabst folgendes hinzu: «Weil für Habermas Erkenntnisprozesse primär handlungsbezogen sind, nimmt die Bedeutung von kommunikativen Handlungen zu». PABST, Karl H., Transzendentale Erkenntnis und Gesellschaft. Zur Kritik transzendentaler Begründungsversuche der Gesellschaftstheorie bei Max Adler, Jürgen Habermas und Theodor W. Adorno (Peter Lang, Frankfurt 1992), S. 183.

 

[3] HABERMAS, Jürgen, Zwischen Naturalismus…, S. 178.

 

[4] Vgl. ebd., S. 181.

 

[5] Vgl. ebd., S. 186.

 

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