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3.1.1 Kritik am epiphänomenalistischen Reduktionismus

 

 

Dem Determinismus, der von rein neurobiologischen Ursachen ausgehend alle Handlung zu erklären versucht, steht Habermas negativ gegenüber, weil besagte Lehre einen stark epiphänomenalistischen Reduktionismus voraussetzt (1). Im Unterschied dazu erklärt der bescheidene Begriff bedingter Freiheit auf Basis von Gründen die Handlungen (2) und berücksichtigt die natürliche Entwicklung der kulturellen Lebensformen, denen epistemische Erklärungsperspektiven und theoretische Wissensformen des epiphänomenalistischen Reduktionismus entspringen (3).

 

1) Obwohl sich beobachtbare Ursachen in modernem Sinn und vernünftige Gründe in klassischem Sinn für gegenseitig ergänzende Wissensformen und offensichtlich für komplementäre Erklärungsperspektiven halten lassen, trennt der Gehirnmonismus methodisch besagte Ursachen von irgendeinem rationalen Grund und reduziert alle Erklärungen einzig und allein auf empirische Ursachen. Deswegen ist dieser epiphänomenalistische Reduktionismus, der aus seinen Kausalerklärungen irgendeinen Grund ausschließt und a priori die Rolle der Gründe nur den neurobiologischen Ursachen zuschreibt, eher methodisch und epistemisch als ontologisch.[1] Aus seiner ›szientistischen‹ Sicht reduziert der Gehirnmonismus die Gründe, die gemäß den Voraussetzungen seines einseitigen Forschungsansatzes bloße Epiphänomene sind, auf besagte Ursachen. D.h. die Gründe übernehmen laut dem epiphänomenalistischen Reduktionismus nur die Rolle nachträglich rationalisierender Kommentare zum unbewussten Verhalten, das erst neurobiologisch erklärbar sei.

 

2) Abgesehen von neurobiologischen Ursachen lässt sich die bedingte Freiheit der Handlungen aus wohl überlegten Gründen erklären, denn «frei ist nur der überlegte Wille».[2] Daher schließt Habermas in den Begriff bedingter Freiheit die Thematik der Abwägung, Erwägung und Überlegung in Zusammenhang mit dem Entscheidungsvermögen des Willens ein. Solange Menschen Entscheidungen treffen, lässt sich ihre Freiheit durch die Abwägung und Erwägung überlegter Gründe bedingen. Im Rahmen dieser Bedingtheit ist jeder Handelnde insofern frei, als er gemäß dem Ergebnis seiner Überlegung das Richtige entscheidet und demzufolge richtig handeln will. In diesem Sinne bedingen besagte Gründe das Wollen seines Willens, seine Entscheidungen und sein Handeln, das notwendig vom Begriff bedingter Freiheit erfordert wird. Demnach muss jeder Handelnde aus wohl überlegten Gründen nicht nur von der absichtlichen Richtigkeit seines Handelns überzeugt sein, sondern er muss auch tatsächlich gemäß besagten Gründen das Richtige tun.

 

Von diesem Standpunkt aus ist die ›weiche‹, rationale Erklärung der bedingten Freiheit bei Habermas, der einschließlich während der Abwägungsvorgänge von Handlungsalternativen die überlegten Gründe berücksichtigt, eine Kritik an der szientistischen Kausalerklärung, die ausschließlich auf neurobiologische Ursachen besagte Gründe des freien Handelns reduziert. Seinerseits räumt Habermas ein, dass seine Auffassung bedingter Freiheit sich durch biologische, psychologische, soziokulturelle und sprachliche Faktoren begrenzen lässt, denn der Mensch ist ein organisch verwurzelter Geist in der Welt. Aus diesem Grund beeinflussen seine physische Kondition, Fähigkeiten, Temperament, Charakter und andere Umstände seiner Lebensgeschichte, der Gesellschaft, Kultur und Sprache seine umstandsbedingt situierte Freiheit.

 

Auf Basis von dieser situationsspezifischen Bedingtheit der menschlichen Freiheit ist es möglich, die These über die Interaktion zwischen dem Physischen und Geistigen zu bestätigen, d.h. zwischen Gehirn und Bewusstsein. Folglich verhilft uns die kommunikative Interaktion zwischen dem menschlichen Bewusstsein und Gehirn zur begrifflich kohärenten Versöhnung unserer bedingten Freiheit mit dem flexiblen Determinismus unserer Natur, die in einer äußeren, inneren, soziokulturellen Welt und im Rahmen der Sprache situiert ist. Insofern ist die bedingte Freiheit nicht nur theoretisch vereinbar mit einem flexiblen Determinismus, den besagte Freiheit ihrerseits verwendet, sondern die menschliche Natur verlangt auch notwendig im Alltagsleben aufgrund ihrer Vergesellschaftung und Verkörperung die Bedingtheit der menschlichen Freiheit.

 

Unter anderen Faktoren bestimmt die organische Struktur unseres Körpers als Leibs, was wir können. Weil der Mensch körperlich und leiblich in der Welt besteht, spezifiziert er notwendig seine Identität in Zusammenhang mit seinem eigenen Organismus. Auf diese Weise identifiziert sich jeder Mensch mit seinem eigenen Körper und Leib, der biologisch sein Handeln ermöglicht und physisch jeden Menschen zum Handeln befähigt. Aufgrund besagter Identifizierung lässt sich jeder Handelnde als Urheber auch durch seine neurobiologischen und psychologischen Strukturen bestimmen und kann bewusst solche Bestimmungen übernehmen.

 

Infolgedessen lässt sich die menschliche Freiheit sowohl durch die Natur, deren Determinismus und Bedingtheit überhaupt nicht die Freiheit beeinträchtigen, als auch durch vernünftige Gründe für unser Handeln einschränken. «Insofern ist die Handlungsfreiheit nicht nur durch Gründe »bedingte«, sondern auch »naturbedingte« Freiheit»;[3] zugunsten deren die Gehirnprozesse, der Charakter, die Gesellschaft, Kultur, Sprache u. a. die Rolle ermöglichender Bedingungen für ihre Entfaltung spielen. Anders gesagt, die Bedingtheit, die die Bescheidenheit der Möglichkeiten unserer Freiheit begünstigt, bedeutet keine vernichtende Beeinträchtigung besagter Freiheit, deren ›naturbedingte‹ Bestimmbarkeit eine notwendige Voraussetzung für ihre freie Selbstbestimmung ist.

 

3) Mit dem Begriff bedingter Freiheit, wonach sowohl die Ursachen mit den Gründen als auch das Gehirn mit dem Bewusstsein vereinbar sind, steht die Universalpragmatik in Einklang. In diesem Sinne verteidigt Habermas gegen die harten bzw. szientistischen Kausalerklärungen des epiphänomenalistischen Reduktionismus, angesichts dessen ihm die Universalpragmatik mit dem Vorschlag einer Detranszendentalisierung des Bewusstseins die richtige Richtung weist, eine weiche bzw. universalpragmatische Erklärung aus der Sicht der mäßig monistischen Weltauslegung. Trotz des Unterschieds zwischen dem Physischen und Geistigen interagieren das Gehirn und Bewusstsein kommunikativ, denn Habermas zufolge schließt das eine das andere nicht aus. Aus neurobiologischen Ursachen handeln Menschen infolge der Wechselwirkung zwischen dem Gehirn und Bewusstsein, auch wenn sie logischerweise mit Hilfe von vernünftigen Gründen ihre Entscheidungen und Handlungen rechtfertigen.[4]

 

Im Gegensatz zum epiphänomenalistischen Reduktionismus hält der ›weiche‹ Naturalismus insoweit das komplexe Verhältnis vom Gehirn und Bewusstsein für eine kommunikative Interaktion, als die Vergesellschaftung der Individuen ihre Wechselwirkung innerhalb etlicher Sprach- und Kooperationsgemeinschaft in Zusammenhang mit der Entfaltung ihrer physischen und geistigen Fähigkeiten impliziert. Im Hinblick auf seine Vergesellschaftung spielen die physische und die psychische Dimension jedes Menschen folglich komplementäre Rollen.

 

Obgleich der Mensch ursprünglich ein organisch verwurzelter Geist in der Welt ist, fasst der epiphänomenalistische Reduktionismus deduktiv die Interaktion zwischen physischer Natur und Geist als zwei unvereinbare Gegensätze auf und reduziert anhand epistemischer Erklärungen und theoretischer Wissensformen das Bewusstsein auf die neurobiologischen Funktionen des Gehirns. Insofern scheint solcher Reduktionismus bisweilen eher ein Ergebnis der Spekulation als ein Bestandteil der natürlichen Evolution des Menschen zu sein. Von diesem epiphänomenalistischen Reduktionismus distanziert sich Habermas, der in Bezug auf die Evolutionstheorie Darwins naturalismusfreundlich ist, und fasst seine mäßig monistische Weltauslegung folgendermaßen zusammen.

 

«Die Kontinuität einer Naturgeschichte, von der wir uns, wenigstens in Analogie zu Darwins natürlicher Evolution, eine Vorstellung, wenn auch keinen theoretisch befriedigenden Begriff machen können, sichert dann – über die epistemische Kluft zwischen der naturwissenschaftlich objektivierten Natur und einer intuitiv immer schon verstandenen, weil intersubjektiv geteilten Kultur hinweg – die Einheit eines Universums, dem die Menschen als Naturwesen angehören».[5]

 

Im Rahmen der Einheit des Makro- und Mikrouniversums, in dem der Mensch als Urheber der Kultur ein vergesellschaftetes Stück der Natur ist, lassen sich sowohl die Natur und Kultur als auch das Gehirn und Bewusstsein miteinander verknüpfen, d.h. das Physische mit dem Psychischen und die Natur- mit den Geisteswissenschaften. Nachdem Habermas, wie gesagt, polemisch gegen den epiphänomenalistischen Reduktionismus Einwände erhoben hat, führt er die folgenden Gründe für die Wechselwirkung zwischen Natur und Geist an.

 

 

 

 

[1] Vgl. ebd., S. 167.

 

[2] Ebd., S. 160.

 

[3] Ebd., S. 165.

 

[4] G. Roth setzt zwar auch voraus, dass Ursachen und Gründe in Wechselwirkung zueinander stehen, aber er betont die Rolle der Ursachen. Beispielweise verteidigt er die folgenden Thesen: «1. Gründe allein bewegen gar nichts, sondern nur solche, die zu neuronalen Ursachen werden. 2. Es gibt nicht eine Welt der Gründe und davon gesondert eine der Ursachen. Die Welt der Gründe, die sozial vermittelt ist, muß in die Welt der Ursachen hineinreichen, um handlungswirksam zu werden. […] Ich bin kein Reduktionist. […] Ich würde in aller Bescheidenheit sagen: Wenn ich drei Stunden Zeit hätte mit Habermas zu sprechen, wären wir uns danach einig. […] Auch Argumente müssen als Gründe zu neurobiologischen Ursachen werden, um wirken zu können». ROTH, Gerhard, »Das Gehirn und die Willensfreiheit«, in: FUNKEN, Michael, Hrsg., Über Habermas..., S. 157.158.164.

 

[5] HABERMAS, Jürgen, Zwischen Naturalismus…, S. 171.

 

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