top of page

4.2 Einschluss der Opfer in die formalen Vorgänge

 

 

Den logischen Übergang vom Sein und Sollen zum Können vorzubereiten, d.h. den Übergang von den deskriptiven und normativen Aussagen zu den effizienten Möglichkeiten zu ihrer Durchführung, verlangt es nun die Rechtfertigung und Grundlegung der Geltung der oben erwähnten Aussagen. Auf der Basis der Richtigkeit der Gründe, die sich während der formalen Gesprächsvorgänge anführen lassen, können normative Aussagen begründet werden. Wie gesagt, an solchen Vorgängen müssen sowohl Beteiligte als auch Betroffene als Opfer teilnehmen, deren formaler Einschluss in den Dialog die Bedeutung des Habermas’schen Ausdrucks ›Einbeziehung des Anderen‹ vom Standpunkt der Opfer aus spezifiziert.

 

Teilnehmer am Dialog, während dessen sie sich formal mit der intersubjektiven Geltung des materialen Inhalts der Ethik auseinandersetzen können, sind vor allem eine Gemeinschaft von Lebenden, die sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen und der Opfer im Besonderen einsetzen müssen. Aus den Gründen, die während der Argumentationsvorgänge angeführt werden, ergibt sich die formale Geltung der praktischen Wahrheit besagten Inhalts. Auf diese Weise können Teilnehmer unter Umständen die Objektivität der Wahrheit als «adaequatio rei et intellectus» mit Hilfe von intersubjektiven Argumenten, die Anspruch auf formale Richtigkeit erheben, vor jeder Lebens- und Kommunikationsgemeinschaft rechtfertigen.

 

Zur Begründung der formalen Ethik hat Kant, in dessen philosophischem Aufsatz er den formalen Aspekt der Allgemeingültigkeit entwickelt hat, herausragend oberhalb vieler moderner Philosophen seinen Beitrag geleistet. Seinerseits hat der Kontraktualismus Rawls’, der seine Aufmerksamkeit eher auf die Form, den Gesellschaftsvertrag zu schließen, als auf seinen Inhalt fokussiert hat, das Thema der Gerechtigkeitstheorie als formaler Lehre von der Fairness behandelt. Damit gerechte Entscheidungen fair im Rahmen der liberalen Politik getroffen werden, spielt der ideale Urzustand als fiktive Entscheidungssituation eines Schleiers des Nichtwissens gemäß dem formalen Standpunkt Rawls’ eine zentrale Rolle. Dazu meint Dussel, dass die Ethik in Zusammenhang mit einer philosophischen Kritik an der Ökonomie aus der befreiungspolitischen Perspektive der Opfer auch einer Theorie über den materialen Gerechtigkeitsinhalt bedarf.

 

Auf notwendige Möglichkeitsbedingung für die Argumentation reduziert Apel das Überleben und vernachlässigt das Leben als konstituierenden Bestandteil und materialen Inhalt seiner formalen Diskursethik. Im Gegensatz zu Apel, dessen formale Argumentation den Vorrang vor dem Prinzip „Leben“ hat, hält es Dussel für materiales Kriterium und Grundprinzip der Befreiungsethik. Aus diesem Grund nimmt Apel zur Transzendentalpragmatik und zum Anspruch auf eine ›Letztbegründung‹ Zuflucht und ihn bringt die Anwendung seiner Diskursethik auf die Verantwortung des Alltags in Schwierigkeiten, denn Apel kann wohl nicht aus seinem theoretischen Elfenbeinturm hinausbegeben.[1] Trotz besagtem Formalismus räumt Dussel ein, dass die Befreiungsethik viel Schönes von der Diskursethik lernen kann. Bei rechtem Licht betrachtet, können sich Menschen im Alltagsleben weder von der formalen und rein intersubjektiven Geltung ausgehend miteinander verständigen, d.h. ohne einen wenigstens minimalen Wahrheitsinhalt, noch lässt sich die formale Geltung des materialen Lebensinhalt unabhängig von aller intersubjektiven Verständigung rechtfertigen; denn unter diesen Umständen ist er in Bezug auf die Handlung schwach verpflichtend und langfristig haltlos.[2]

 

Bereits am Anfang seines Werks distanziert sich Habermas vom materialen Inhalt des Marxismus, wenn es sich ruhig von der Kritik an der politischen Ökonomie zur Kritik an der Gesellschaft und im Allgemeinen an den Sozialwissenschaften verschiebt. Danach reduziert sich die Universalpragmatik beinahe auf das formale Thema des Diskurses, obgleich der Begriff „Lebenswelt“ Habermas’ Interesse für die Werte und Anwendung seiner Diskursethik erregt. Laut Dussel vermag es Habermas zwar, die intersubjektive Geltung materialer Wertaussagen mit Hilfe von ›normenbegründenden‹ Prinzipien zu rechtfertigen, aber er pflegt nicht explizit, die vier folgenden Aussagen in Erwägung zu ziehen: 1) Die normativen Aussagen, die vom Standpunkt der Opfer aus die formalen Verständigungen des herrschenden Systems kritisieren. 2) Die Wertaussagen, deren Inhalt die Opfer aufgrund der Herrschaftsvoraussetzungen besagter Urteile in Zweifel ziehen. 3) Die kritischen Aussagen der Befreiungsethik, die auch formale Geltungsansprüche erheben. 4) Die kritischen Aussagen mit materialem Inhalt, die von wirklich durchführbaren Projekten ausgehend Wertaussagen des herrschenden Systems in Frage stellen.[3] In Anbetracht dieser Aussagen, die Habermas vernachlässigt, ist sein philosophisches Denken einerseits hinsichtlich der Kritik am derzeitigen Herrschaftssystem konservativ und gleichwohl lässt es sich andererseits durch die liberalen Ideen der Aufklärung inspirieren.

 

Durch die Fachbegriffe „Faktizität“ und „Geltung“, die intersubjektiv von der zwangslosen Argumentation im Rahmen der herrschaftsfreien, demokratischen Institutionen gerechtfertigt werden, lässt sich Habermas’ formale Diskurstheorie des Rechts und der Demokratie zusammenfassen. Obwohl Habermas den Begriff von „Faktizität“ mit der Lebenswelt und mit den Tatsachen der äußeren Natur und Gesellschaft in Zusammenhang bringt, erreicht er überhaupt nicht, bestimmte Schwierigkeiten im Verhältnis zum materialen Inhalt der Ethik zu überwinden. Z.B.:

 

  • Besagten Inhalt auszuschließen, reduziert es den Horizont der Wertaussagen auf eine rein formale Analyse.

  • Im Bereich der inneren Natur bzw. Lebenswelt ist das menschliche Leben als gutes Leben nicht nur etwas Kulturelles, sondern auch Moralisches.

  • Menschen benötigen sowohl die theoretische Rechtfertigung des formalen Prinzips der Diskursethik als auch seine praktische Anwendung auf ihr Leben, mit dem das materiale Prinzip der Befreiungsethik im Zusammenhang steht.

  • Im Alltag verhilft die subjektive Motivation, an deren materialem Hintergrund es den Normen der Diskursethik infolge ihrer rein formalen Begründung mangelt, jedem Menschen zur Erfüllung jeder Norm.

  • Unter bestimmten Umständen kann man gegen die abstrakte Formulierung eines rein formalen Prinzips der Ethik aufgrund des Mangels an einem materialen Prinzip für das gute Leben Einwände erheben.

  • Handlungen und Normen, die die Diskursethik zwar anhand bloß formaler Argumente zu entwurzeln versucht, schlagen aber tatsächlich im Boden der Lebenswelt, Institutionen und der subjektiven Motivationen Wurzeln.

  • Laut Dussel sind der formale und der materiale Aspekt der Ethik jenseits der Debatte über den Vorrang des Richtigen vor dem Guten bei Habermas und umgekehrt bei Taylor miteinander im Rahmen der Befreiungsethik vereinbar.

  • Dussel zufolge lässt sich die ethische Rolle des Gewissens weder durch die kognitivistische Rolle des Bewusstseins, das sich als Moralbewusstsein auf der postkonventionellen Stufe seiner Entwicklung durch ›normenbegründende‹, allgemein gültige Prinzipien leiten lässt, noch durch die rein formale Rolle der demokratischen Meinungs- und Willensbildung ersetzen.

 

Dazu fügt Dussel wörtlich folgendes hinzu: Die Befreiungsethik kann nicht nur alle positiven Aspekte dieser formalen, universalistischen Intersubjektivität subsumieren, sondern außerdem kann sie sie auch mit einem ethischen Gewissen verbinden.[4] An dieser Stelle gebraucht Dussel ausdrücklich das deutsche Wort „Gewissen“, das er begrifflich vom kognitiven Moralbewusstsein unterscheidet. Dem Gewissen schreibt er eine Rolle im Rahmen des materialen Inhalts der Ethik zu, da es von kulturellen Umständen ausgehend die Handlungen beurteilt. Ihrem kulturellen Hintergrund stellt sich das Gewissen kritisch und kann ihn aus der Perspektive des materialen Inhalts des Prinzips „Leben“ in Ausgangspunkt für die verantwortliche Reproduktion und Weiterentwicklung des menschlichen Lebens jedes Subjekts innerhalb einer Lebensgemeinschaft umwandeln, denn nicht nur ist die Interaktion des Moralbewusstseins nach Art von Habermas kommunikativ, sondern sogar ist die Interaktion des Gewissens auch gemeinschaftsfreundlich.

 

Aus besagter Perspektive versucht Dussel die materiale Ethik mit der formalen Ethik in Zusammenhang zu bringen. Auf der einen Seite schlägt die erstere im Boden des menschlichen Lebens Wurzeln und auf der anderen Seite kann die letztere ihren Beitrag zur formalen Rechtfertigung des materialen Inhalts der Ethik leisten. Im Laufe der diskursiven Vorgänge nimmt besagte Rechtfertigung auf die Argumente für die formale Geltung der Normen und Prinzipien Bezug, während die Anwendung besagter Normen und Prinzipien auf die Handlung den Personen entspricht. Unter bestimmten Umständen des Alltagslebens lassen sich die folgenden Fragen nach dem Inhalt, den Vorgängen und der Anwendung der Ethik stellen lassen: Wie, wofür und wogegen soll man als Mitglied bzw. ausgeschlossenes Opfer einer Lebens- und Kommunikationsgemeinschaft argumentieren? Worüber können wir uns miteinander verständigen? Welche Verständigung ist möglich und im Alltagsleben effizient durchführbar? Wann ist sie durchführbar und wo, bei wem, mit wem, usw.?

 

Auf diese letzte Frage kann man antworten, dass Systemmitglieder sich mit den Opfern solidarisieren können, um sich mit den Opfern zu verständigen und um jede Verständigung mit ihnen im Alltagsleben mittels effizienter Instrumente und Strategien der Befreiungspraxis durchzuführen. Vom Standpunkt der Opfer aus kann die Befreiungsethik innerhalb ihrer Begriffe nicht nur formale Beiträge der Diskursethik subsumieren, sondern sie nimmt auch die konkrete Kultur der Ausgeschlossenen in Kauf, d.h. den materialen Inhalt des Lebens, ihre materielle Bedürfnisse, den Hintergrund und Horizont ihrer Erwartungen im Hinblick auf die effiziente Anwendung der Ethik auf die Herausforderungen des Alltagslebens.

 

Gegen das Herrschaftssystem, dessen Globalisierungsvorgänge auf eine paradoxe Weise die meisten Leute ausschließen und daher Marginalisierungsvorgänge sind, verteidigen die Opfer aus der Systemperipherie ihre ›antihegemonische‹ bzw. herrschaftsfeindliche Geltung. Im Lichte besagter Geltung leistet die kritische Verständigung der Opfergemeinschaft, die wegen ihrer mangelnden Ressourcen an der Peripherie des spätkapitalistischen Systems zu überleben versucht, ihren Beitrag zur Befreiung. Zu diesem Zweck entwickelt die befreiende Vernunft der Opfer, unter denen sich Ernst Bloch, Paulo Freire, Rigoberta Menchú, marginale Gruppen und ausgeschlossene Kulturen befinden, aus der Peripherie Beiträge.

 

In Anlehnung an ihre Beiträge identifiziert Dussel das kritische, formale Kriterium und das kritische Prinzip formaler Geltung, die vom Standpunkt der Opfer aus das Moralkriterium und Moralprinzip formaler Geltung ergänzen. Das kritische Kriterium formaler Geltung geht von der folgenden Tatsache aus: Opfer werden aus den intersubjektiven Kommunikationsvorgängen ausgeschlossen und sind von Verständigungen besagter ausschließender Vorgänge betroffen. Dussel beschreibt es vorläufig folgendermaßen:

 

«Man erreicht die kritische Geltung immer dann, wenn man eine Gemeinschaft der ausgegrenzten Opfer bildet, die sich gegenseitig als vom herrschenden System völlig abgetrennte und verschiedene Subjekte an-erkennen und symmetrisch in die Entscheidungen teilhaben, die sie treffen».[5]

 

Mit Trennungsstrich schreibt Dussel in der spanischen Version die Wörter „dis-tintas“ und „re-conocer“, um ihre Levinas’sche Konnotation zu betonen. Zum einen bedeutet das Adjektiv „dis-tintas“ bzw. „abgetrennte und verschiedene“,[6] dass die Subjekte als Opfer infolge ihrer radikalen Ausgrenzung total anders sind. Zum anderen konnotiert das Verb „re-conocer“ bzw. „an-erkennen“, dass die Anerkennung des Anderen Beantwortung von seinen Bedürfnissen ist, weil man gegenüber ihm und für seine Nöte verantwortlich ist. Übrigens übersetzt das Wort „Verständigungen“ insoweit richtiger als das Substantiv „Entscheidungen“ das spanische Wort „acuerdos“, als das erstere im Deutschen mehrdeutig ist und bei Habermas eine diskursive Fachbedeutung hat. In diesem Sinne fügt Dussel hinzu, dass besagte Verständigung kritisch ist und sich eben durch die rationale Argumentation begründen lässt.

 

Der befreiungsethischen Kritik zufolge sind die oben erwähnten Verständigungen gültig dann und nur dann, wenn sie die drei folgenden Herausforderungen der materialen, formalen und instrumentell-strategischen Kritik annehmen: 1) Opfer haben nicht menschlich gemäß dem materialen Inhalt der Ethik leben dürfen. 2) Opfer haben nicht diskursiv an der formalen Diskussion über dasjenige, das sie betrifft, teilnehmen dürfen. 3) Dasjenige, das vom herrschenden System zur Geltung erhoben worden ist, hat nicht effizient die Lebensbedingungen der Opfer verbessern können.

 

Wenn die Ausgeschlossenen vom kritischen, formalen Kriterium ausgehend das Herrschaftssystem analysieren, können sie sich nach den Mechanismen ihres formalen Ausschlusses fragen. Dazu kann ihnen das kritische, demokratische Kriterium der Dusselschen Befreiungspolitik verhelfen, denn «es geht nämlich um die Bewußtwerdung der Mechanismen der asymmetrischen Ausgrenzung»[7] als Tatsache, die ihren formalen Einschluss in die intersubjektiven Dialogvorgänge verhindert. In diesem Zusammenhang erwirbt das Thema des Bewusstseins nun politische Konnotationen und seine kommunikative Interaktion wird eigentlich zur politischen Teilnahme an der Befreiungspraxis zugunsten der Opfer.

 

Vom Standpunkt der Opfer aus fokussiert das kritische Kriterium formaler Geltung das formale Kriterium der Intersubjektivität, deren diskursethischen Begriff die Befreiungsethik im Rahmen ihres philosophischen Ansatzes subsumiert hat. In groben und abstrakten Umrissen behauptet Dussel, dass dieses Moralkriterium formaler Geltung «im Anspruch auf die Erreichung aktueller Intersubjektivität bezüglich der wahrheitsgemäßen Aussagen als Ergebnis rationaler Vereinbarungen einer Gemeinschaft besteht».[8] An dieser Stelle scheint das Substativ „Verständigungen“ auch richtiger als der Ausdruck „Vereinbarungen“, das spanische Wort „acuerdos“ zu übersetzen, wie gesagt.

 

Auf Basis von der Tatsache, die sich kurz und gut als den formalen Ausschluss der Opfer bzw. Betroffenen beschreiben lässt, erlaubt das kritische Kriterium formaler Geltung nun, den normativen Aspekt des kritischen, formalen Prinzips zu begründen. D.h. ein formales Urteil über das Sollen bzw. Müssen kann dann und nur dann begründet werden, wenn es eine Tatsache gibt, über die jemand urteilen kann. Aufgrund der Tatsache des formalen Ausschlusses der Betroffenen hat die Normativität des kritischen, formalen Prinzips eine objektive Basis und es kann nach Dussel folgendermaßen formuliert werden:

 

«Wer ethisch-kritisch handelt, muß als Opfer oder als „organischer Intellektueller“ integriert an der Kommunikationsgemeinschaft der Opfer teilnehmen, er ist dazu deontisch und aus Verantwortung „verpflichtet“».[9]

 

Anstelle des ›adjektivierten‹ Partizips „integriert“ gebraucht Dussel auf Spanisch das Wort „articulado“, das insofern keine passive Konnotation hat, als der so genannte, „organische Intellektuelle“ nach Art von Gramsci eine aktive Rolle bei seiner kommunikativen Teilnahme an der Opfergemeinschaft spielt. Deswegen kann er sich mit Hilfe seiner kommunikativen Interaktion allmählich im Laufe der intersubjektiven Gesprächsvorgänge seiner selbst als intellektuellen Mitglieds der Opfergemeinschaft bewusst werden. In diesem Sinne könnte jedes solidarische Mitglied des derzeitigen Herrschaftssystems, bei rechtem Licht betrachtet, an der Opfergemeinschaft teilnehmen und auf diese Weise zum „autonom integrierten“, „organischen Intellektuellen“ werden. Darüber hinaus wird das oben zitierte Wort „Verantwortung“ von Dussel auf Spanisch mit Trennungsstrich geschrieben und demnach setzt die ›Ver-Antwortung‹ gemäß ihrer Levinas’schen Konnotation die deontologische Anerkennung des Anderen als Beantwortung von seinen Bedürfnissen voraus.

 

Aus der befreiungsethischen Sicht der Opfer lässt sich das diskursethische Prinzip formaler Geltung, deren Subsumtion Dussel in seiner Ethik versucht, durch das kritische, formale Prinzip fokussieren. Ehrlich räumt er ein, dass das erstere nur eine Erweiterung und Vertiefung des diskursethischen Grundsatzes Apels, den der Kantische Formalismus zur Suche nach etwas allgemein Gültigem inspiriert hat, und ein Verfahrensmittel für die Anwendung der formalen Ethik auf den materialen Inhalt des menschlichen Handelns ist. Grundsätzlich lässt sich das diskursethische Moralprinzip formaler Geltung, das freilich Anspruch auf keine erschöpfende und definitive Formulierung erhebt, folgendermaßen kurz äußern:

 

«Wer mit einem Geltungsanspruch argumentiert, tut dies aus der reziproken Anerkennung aller Beteiligten als Gleichberechtigte heraus[…]».[10] Damit akzeptiert er die moralischen Verfahrensforderungen, wonach alle Betroffenen tatsächlich an der argumentativen Diskussion teilnehmen (…) und einzig und allein aufgrund des Zwangs des besseren Arguments zu Verständigungen bereit sein müssen. Innerhalb des Horizonts der Orientierungen; die sich aus dem bereits erwähnten, ethischen, materialen Prinzip ergeben; lassen sich besagte Verfahrensbedingungen und die getroffenen Entscheidungen einrahmen.

 

Zwecks eines klaren Verständnisses seiner Normativität werden nur die ersten Zeilen dieses Prinzips wörtlich aufgrund ihrer irreführenden Übersetzung vom Spanischen ins Deutsche zitiert, deren Irrtümer mit dem Mangel an Genitiv am Ende des Worts „Gleichberechtigte“ beginnen. Vom materialen Inhalt der Ethik, mit dem Dussel die formale Geltung in Einklang zu bringen versucht, haben sich sowohl der Grundsatz von Universalisierung (kurz ›U‹) als auch der Grundsatz des Diskurses (kurz ›D‹) auf dem Wege des Formalismus nach Art von Kant entfernt.[11] Ungeachtet der begrifflichen Verwandtschaft, wegen deren das oben erwähnte Moralprinzip Dussels zu den formalen Grundsätzen Habermas’ & Apels in Beziehung steht, kann es kraft seiner komplexen Struktur mit dem materialen Inhalt der Ethik in Einklang gebracht werden.

 

Da das kritische, formale Prinzip in seinem Begriff vom Standpunkt der Opfer aus das diskursethische Moralprinzip formaler Geltung subsumiert, kann die Befreiungsethik mittels der Anwendung beider Prinzipien auf die Befreiungspolitik ihren Beitrag zur Kritik an den asymmetrischen Situationen des derzeitigen Herrschaftssystems leisten, d.h. zur Konstruktion einer demokratischen und kritischen Symmetrie. Zu diesem Zweck schlägt Dussel die folgende Mindestbeschreibung als allgemeine und vorläufige Formulierung des formalen, politischen Prinzips bzw. demokratischen Prinzips von Gleichberechtigung vor, mittels dessen Dussel im Hinblick auf die effiziente Durchführung der Befreiungspraxis seine Ethik auf die politischen Institutionen anwendet:

 

›Agieren wir stets derartig, dass jede Norm bzw. Maxime jeder Handlung, Organisation bzw. Institution für Ergebnis aus einem Verständigungsvorgang, an dem die Betroffenen voll und ganz teilnehmen können, gehalten wird. Besagte Verständigung muss öffentlich auf der Basis von Gründen mit der möglichen Höchstsymmetrie und gemäß den institutionellen, im Voraus vereinbarten Kriterien vollzogen werden. Als politische Pflicht, die normativ bzw. mit praktischem Anspruch und berechtigt den Staatsbürger verpflichtet, setzt sich die so gefällte Entscheidung durch‹.[12]

 

Vor allem ist es zu bemerken, dass Dussel explizit dieses demokratische Prinzip als kategorischen Imperativ nach Art von Kant formuliert. In seiner gesamten Fassung fügt Dussel zum Wort „Betroffenen“ den spanischen Nebensatz „de los que se tenga conciencia“ hinzu. Folglich meint Dussel eigentlich mit dem Begriff „Betroffenen“ diejenigen, deren man sich bewusst wird. Tatsächlich können alle nicht voll und ganz teilnehmen, denn niemand kann absolut alle Folgen seiner Handlung bezüglich aller Betroffenen vorsehen und ihr teilnehmender Einschluss kann in die Verständigungsvorgänge eher effizient als vollkommen sein. Deswegen behauptet Dussel, dass ihre Vollteilnahme niemals definitorisch vollkommen sein kann. In ähnlicher Weise ist unsere Bewusstwerdung der Betroffenen laut Dussel historisch situiert und begrenzt, weil wir nicht tatsächlich viele Menschen kennen lernen, die wirklich betroffen sind. Darüber hinaus erhebt die so genannte ›mögliche Höchstsymmetrie‹ Anspruch auf keine vollkommene Symmetrie, da diese letztere im Alltagsleben unmöglich ist.

 

Oft können sich die Betroffenen mit der Gleichberechtigung und der effizienten Durchführung desjenigen, worüber sie sich miteinander verständigen, aber zufrieden geben. Auf diese Weise lässt sich Habermas’ Begriff „kommunikatives Handeln“, das theoretisch einverständnis- und verständigungsorientiert ist, durch den philosophischen Ansatz Dussels subsumieren, wonach es in der Praxis mit dem strategischen und instrumentellen Handeln vereinbar ist. Daher betont Dussel ausdrücklich die Durchführbarkeit der Verständigung, nach deren Zweck die Betroffenen zwar stets streben müssen, aber die verständigungsorientierten Kommunikationsvorgänge erheben nicht unbedingt Anspruch auf Vollkommenheit.

 

In diesem Zusammenhang ist der Einschluss der Betroffenen, die voll und ganz am Dialog teilnehmen können, so realistisch und bescheiden wie die kommunikative Interaktion ihres Bewusstseins im Laufe der Verständigungsvorgänge, da sich ihre Verständigungen durch ihre effiziente Anwendung auf die durchführbare Befreiungspraxis vermitteln lassen können. Im Anschluss wird erklärt, was Dussel mit dem Begriff „Durchführbarkeit“ meint und was sie mit der kommunikativen Interaktion des Bewusstsein zu tun hat.

 

 

 

 

[1] Vgl. ebd., S. 184 § [132].

 

[2] Vgl. ebd., S. 187 § [134].

 

[3] Vgl. ebd., S. 195-196 § [142].

 

[4] Auf Spanisch lautet der originale Text, den die deutsche Kurzfassung des Buchs Prinzip Befreiung einfach auslässt, folgendermaßen: «La Ética de la Liberación[…] puede no sólo subsumir todos los aspectos positivos de esta intersubjetividad universalista formal, sino además articularla a una conciencia ética (una Gewissen y no mera Moralbewußtsein cognotivista)». Ebd., S. 200 § [146].

 

[5] Ders., Prinzip Befreiung..., S. 132. Der spanische Text lautet folgendermaßen: «Se alcanza validez crítica cuando, habiendo constituido una comunidad las víctimas excluidas que se re-conocen como dis-tintas del sistema opresor, participan simétricamente en los acuerdos de aquello que les afecta». Ders., Ética de la liberación en la edad..., S. 464 § [327].

 

[6] Ausdrücklich nimmt Dussel Bezug auf das lateinische Verb „distinguere“, das er als „dis-tingere“ auffasst, d.h. ›entfärben‹ bzw. ›abfärben‹ als Grund für jede Unterscheidung. Vgl. ders., Para una ética de la liberación latinoamericana (Siglo XXI, Buenos Aires 1973), Bd. I, S. 102.

 

[7] Ders., Prinzip Befreiung..., S. 132. Vgl. ders., Ética de la liberación en la edad..., S. 464 § [327].

 

[8] Ders., Prinzip Befreiung..., S. 45. Vgl. ders., Ética de la liberación en la edad..., S. 206 § [152].

 

[9] Ders., Prinzip Befreiung..., S. 132. Vgl. ders., Ética de la liberación en la edad..., S. 464 § [328].

 

[10] Ders., Prinzip Befreiung..., S. 54. In diesem Fall kann man kritisch aufgrund der offenkundigen Übersetzungsfehler die deutsche mit der spanischen Version des folgenden Abschnitts vergleichen: «El que argumenta con pretensión de validez práctica, desde el reconocimiento recíproco como iguales de todos los participantes […], acepta las exigencias morales procedimentales por las que todos los afectados […] deben participar fácticamente en la discusión argumentativa, dispuestos a llegar a acuerdos sin otra coacción que la del mejor argumento, enmarcado dicho procedimiento y decisiones dentro del horizonte de las orientaciones que emanan del principio ético-material ya definido». Vgl. ders., Ética de la liberación en la edad..., S. 214 § [158]. M. Frank schwächt die Wirkung des Zwangs des besseren Arguments folgendermaßen ab: «Der berühmte »Zwang« des besseren Arguments übt eine rationale Motivation aus, der mein Gesprächspartner oder ich selbst nicht folgen müssen und die künftige Korrekturen nicht nur nicht ausschließt, sondern essentiell als Möglichkeit vorsieht. Rational argumentiert nicht, wer sein Publikum »zum Verständnis zwingen« will, sondern wer sich der Relativität aller Gründe bewußt ist, so, daß er mit der Möglichkeit von Informationen oder Überlegungen rechnet, die seine bisherige Überzeugung umstürzen können». FRANK, Manfred, Die Grenzen der Verständigung. Ein Gespräch zwischen Lyotard und Habermas (Suhrkamp, Frankfurt 1988), S. 63.

 

[11] «(U) Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können». HABERMAS, Jürgen, Moralbewusstsein …, S. 131. Gemäß ›D‹ würde jede gültige Norm die Zustimmung aller Betroffenen finden, wenn diese nur an einem praktischen Diskurs teilnehmen könnten, wie schon im zweiten Kapitel geschrieben wurde. Vgl. ebd., S. 132.

 

[12] Auf Spanisch lautet der oben übersetzte Text folgendermaßen: «Operemos siempre de tal manera que toda norma o máxima de toda acción[…], organización o […] institución […] sea fruto de un proceso de acuerdo […] en el que puedan de la manera más plena participar los afectados […]; dicho entendimiento debe llevarse a cabo a partir de razones […] con el mayor grado de simetría posible, de manera pública y según la institucionalidad acordada de antemano. La decisión así elegida se impone como un deber político, que normativamente o con exigencia práctica […] obliga legítimamente al ciudadano». DUSSEL, Enrique, Política…, Bd. II, S. 405 § [388].

 

bottom of page