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2.2.3 Entwicklung der kognitiven und interaktiven Dimensionen und Autonomie

 

Nachdem die Vereinbarkeit der Ich-Abgrenzungen mit der Fachsprache der Universalpragmatik gerechtfertigt und vertieft worden ist, ist das Thema über die vier Dimensionen der kommunikativen Interaktionskompetenz nun zu behandeln. Auf der postkonventionellen Stufe entwickelt sich die expressive Dimension der Interaktionskompetenz insoweit, als sich das interaktiv handelnde Ich von seiner expressiven Subjektivität und seinem psychologischen Bewusstsein ausgehend der Moralität seiner Handlungen bewusst wird. Wenn das psychologische Bewusstsein zum moralischen Bewusstsein wird, entwickelt sich die expressive Dimension seiner Interaktionskompetenz zusammen mit seiner moralischen Urteilsfähigkeit, weil der Entstehungsprozess des moralischen Bewusstseins und die Entwicklung der expressiven Dimension seiner Interaktionskompetenz auf diese Weise synchron sind.

 

Sobald sich die expressive Subjektivität gegenüber der interaktiven Normativität, kognitiven Objektivität und sprachlichen Intersubjektivität abgrenzt, wird sich das interaktiv handelnde Ich gleichzeitig psychologisch seiner selbst bewusst. Danach entwickeln sich die vier Dimensionen seiner kommunikativen Kompetenz, die, wie gesagt, expressiv, interaktiv, kognitiv und sprachlich sind. Aufgrund der Entwicklung dieser Dimensionen wird das psychologische Bewusstsein zum spezifisch moralischen Bewusstsein von der konventionellen Stufe ausgehend und mit Hilfe des Übergangs zur postkonventionellen Stufe. Im Hinblick auf die philosophische Erläuterung der Ich-Identität berücksichtigt Habermas in Zusammenhang mit der Psychologie Piagets, der das System der Ich-Abgrenzungen mit den ›präödipalen‹ bzw. ›prä-‹, post- und konventionellen Entwicklungsstufen des moralischen Urteils verknüpft, im Besonderen die Entwicklung der kognitiven und interaktiven Dimensionen der kommunikativen Interaktionskompetenz.

 

1) Auf der einen Seite begünstigt die Entwicklung der kognitiven Dimension der kommunikativen Interaktionskompetenz die fortschreitende Verinnerlichung der äußeren Handlungskoordinierung, um sich reflexiv des manipulierenden Umgangs mit der zunehmend vergegenständlichten und objektiven Wirklichkeit bewusst zu werden. Wegen besagten Umgangs kann das interaktiv handelnde Ich mittels des instrumentellen Handelns über die vergegenständliche Wirklichkeit verfügen,[1] denn die Erkenntnis gewährt ihm über sie eine kognitive Macht. Auf diese Weise gestattet die Entwicklung dieser kognitiven Dimension dem interaktiv handelnden Ich aufgrund einer Geltungsauffassung, die Anspruch auf eine immer und überall gültige Erkenntnis erhebt, über die Einschränkungen der Zeit und des Raums hinauszugehen.

 

Infolgedessen befreit sich es zunehmend von besagten Einschränkungen und kann mit Hilfe des Systems der Ich-Abgrenzungen den kognitiven Aspekt seiner Autonomie entwickeln, deren Habermas’scher Begriff sowohl eine Kontrollmacht über die Objektivität der äußeren Natur als auch eine Emanzipationsfreiheit von den bestimmenden Zwängen der Subjektivität seiner inneren Natur voraussetzt. Außerdem impliziert besagter Begriff jenseits der konventionellen Normativität der sozialen Welt ein interaktives Entscheidungsvermögen, das mit Hilfe der interpersonalen Beziehungen fähig zu einer freien Selbstbestimmung ist, und eine intersubjektive Suche nach dem Sinn des verständigungsorientierten Handelns anhand der diskursiven Sprache den Kommunikationsvorgängen entsprechend.

 

2) Auf der anderen Seite fördert die interaktive Entwicklung der kommunikativen Kompetenz zwar schrittweise ebenfalls eine allmähliche Verinnerlichung der inneren Handlungskoordinierung, um sich reflexiv der Einflussnahme anderer auf das eigene Ich-Verhalten bewusst werden, aber im Gegensatz zur kognitiven Entwicklung erfüllt der interaktive Umgang mit der sozialen Welt die zwei folgenden Bedingungen: Er lässt sich durch die Suche nach einer Gratifikation bzw. durch die Vermeidung des Gratifikationsentzugs motivieren und durch die fremden Intentionen anderer Menschen beeinflussen. Wer sich überlegt dieser Beeinflussung bewusst wird, kann tatsächlich die sozialen Faktoren von sich selbst und seinen Handlungen, die ihm zur Herstellung interpersonaler Beziehungen verhelfen, unterscheiden.

 

Demnach identifizieren sich Kinder selektiv auf der ›präödipalen‹ bzw. ›präkonventionellen‹ Entwicklungsstufe mit dem z. T. realistischen und z. T. idealen Ich-Pronomen als erster Bezugsperson, während Heranwachsende im Hinblick auf die unabhängigkeitsgeleiteten Ich-Ideale die Verhaltenskontrolle der sozialen Handlungsnormen, die Volljährige nach der Entstehung des Unbewussten schon auf der postkonventionellen Stufe gemäß individualisierten Ich-Idealen und aufgrund abstrakter und ›normenbegründender‹ Handlungsprinzipien relativieren, auf der konventionellen Stufe verinnerlichen können.

 

Infolge der oben erwähnten Stufen erreicht das interaktiv handelnde Ich, sowohl sich selbst und seine Handlungen von der konventionellen Normativität der Gesellschaft zu unterscheiden als auch sich mit sich selbst als einziger Ich-Instanz zu identifizieren. Sobald sich die Ich-Identität innerlich auf dem Wege allgemeiner Prinzipien konventionelle Normen und Werte aneignet, «entsteht nämlich die Perspektive einer vollständig individuierten Lebensgeschichte, in der sich das realistische Selbstbild und Ich-Ideal einander annähern können».[2]

 

Aufgrund besagter innerlicher Aneignung kann das vollständig ›individuierte‹ Ich seine Lebenswelt, über deren räumliche Begrenzung es hinausgehen kann, relativieren und ihren begrenzten Horizont erweitern. Auf diese Weise kann sich das vollständig ›individuierte‹ Ich intersubjektiv von seiner unverwechselbaren Identität ausgehend zugunsten einer universalen Kommunikationsgemeinschaft öffnen und folglich kann sich die interaktive Bedeutung der Autonomie auf Basis vom Übergang von den räumlichen Begrenzungen zur universalen Geltung begründen lassen.

 

Übrigens kann das vollständig ›individuierte‹ Ich, dessen unverwechselbare Identität die Kontinuität einer unersetzlichen Biographie ermöglicht, trotz der Veränderung der inneren, sozialen, äußeren und sprachlichen Welt über die quantitative Bedingtheit der Zeit hinausgehen. Beispielsweise können seine interpersonalen Beziehungen auf dem Wege des autonomen und solidarischen Engagements, das seinerseits auch zur Begründung der interaktiven Bedeutung der Autonomie verhilft, sowohl die gleichzeitige Gegenseitigkeit als auch die alleinige Kraft der bloßen Pflicht und der spontanen Neigung überschreiten.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das interaktiv denkende und handelnde Ich sich mit Hilfe der Verinnerlichung der Handlungskoordinierungen von räumlichen und zeitlichen Einschränkungen befreien kann. Tatsächlich sind äußere Handlungskoordinierungen und die kognitive, manipulative Vergegenständlichung der objektiven Wirklichkeit mit dem instrumentellen Handeln ebenso vereinbar, wie innere Handlungskoordinierungen und der interaktive Umgang der sozialen Welt mit dem kommunikativen Handeln im Zusammenhang stehen. Deswegen lassen sich die kognitive und die interaktive Dimension der kommunikativen Interaktionskompetenz keinesfalls aufeinander reduzieren, denn sie verhalten sich zueinander so gegensätzlich wie das instrumentelle Handeln zum kommunikativen Handeln. Obwohl ihre Entwicklungsstufen gegenseitig ähnlich sind, entsprechen ihnen nicht nur verschiedene Bedeutungen des anthropologischen und ethischen Begriffs von „Autonomie“, sondern sie entspringen darüber hinaus verschiedenen anthropologischen Weltanschauungen.

 

Obgleich Habermas bis jetzt keineswegs thematisch die diskursive Entwicklung der sprachlichen Dimension der Interaktionskompetenz systematisiert hat, lässt sie sich explizit von bestimmten Begriffen und Texten seines Werks ausgehend thematisieren. In ihnen setzt die Sprachfähigkeit zur Argumentation auf der postkonventionellen Stufe die Entwicklung der sprachlichen Dimension der Interaktionskompetenz voraus, die weiterhin nicht nur kommunikativ, sondern auch diskursiv ist. Logischerweise ergibt sich diese Dimension aus einem einzigen Entwicklungsprozess, in dessen Lauf das interaktiv handelnde Ich stufenweise seine Subjektivität abgrenzt, sich psychologisch seiner selbst bewusst wird, seine besondere und einzigartige Identität spezifiziert, seine diskursive Sprachfähigkeit und seine moralische Urteilsfähigkeit entfaltet und folglich zum vollständig ›individuierten‹ und moralisch bewussten Ich wird. In Zusammenhang mit dem moralischen Bewusstsein entfaltet sich die diskursive Sprachfähigkeit, die der sprachlichen Dimension der kommunikativen Interaktionskompetenz entspricht, im intersubjektiven Umgang mit sprach- und handlungsfähigen Gesprächspartnern auf der postkonventionellen Stufe.

 

Mitsamt der Entstehung der vollständig ›individuierten‹ Ich-Identität lässt sich die Zurechnungsfähigkeit, die Habermas „integrale Kompetenz“ des Erwachsenen nennt, auch stufenweise entfalten. Wer zurechnungsfähig ist, soll sich nicht nur seiner psychologischen Identität bzw. seiner selbst bewusst sein, sondern er soll sich auch seiner moralischen Urteilsfähigkeit bewusst werden. Aus diesem Grund steht die Entwicklung der Zurechnungsfähigkeit, die sinnvoll einzig und allein auf der postkonventionellen Stufe des moralischen Urteils entfaltet werden kann, mit der Entwicklung des spezifisch moralischen Bewusstseinsgesichtspunkts im Zusammenhang. Diesbezüglich können die folgenden Texte aufklärend sein:

 

«Erst von dem erwachsenen Subjekt dürfen wir sagen, daß das Ich selbst seine Subjektivität abgrenzt und erhält. Diese integrale Kompetenz meinen wir, wenn wir von einem sprach- und handlungsfähigen Subjekt sagen, es sei zurechnungsfähig. Die Ausbildung der Ich-Identität bedeutet die Ontogenese der Zurechnungsfähigkeit».[3]

 

«Eine Person äußert sich rational, soweit sie sich performativ an Geltungsansprüchen orientiert; wir sagen, daß sie sich nicht nur rational verhält, sondern selber rational ist, wenn sie für ihre Orientierung an Geltungsansprüchen Rede und Antwort stehen kann. Die Art von Rationalität nennen wir auch Zurechnungsfähigkeit. Zurechnungsfähigkeit setzt ein reflektiertes Selbstverhältnis der Person zu dem, was sie meint, tut und sagt, voraus[…]».[4]

 

Identifiziert sich diese integrale Kompetenz vielleicht mit der kommunikativen Interaktionskompetenz? Ist sie ausschließlich vielmehr eine reine, diskursive Kompetenz? Kann die sprachliche Dimension der Interaktionskompetenz im übertragenen Sinne etwa als integrale Kompetenz in Anbetracht der spezifisch diskursiven Sprachfähigkeit zur Argumentation aufgefasst werden? Aufgrund der Zurechnungsfähigkeit ist besagte integrale Kompetenz zweifelsohne im engsten Sinne eine moralische Kompetenz, die unbedingt sowohl kommunikativ als auch sprachlich und diskursiv ist. Auf der postkonventionellen Entwicklungsstufe stehen alle vier Dimensionen der kommunikativen Interaktionskompetenz, die Zurechnungsfähigkeit als moralische Kompetenz, die moralische Urteilsfähigkeit und das moralische Bewusstsein miteinander im Zusammenhang. Aus diesem Grund identifiziert sich die Zurechnungsfähigkeit eigentlich mit der moralischen Urteilsfähigkeit, die infolgedessen als integrale, sprachliche, kommunikative und diskursive Kompetenz gilt.

 

Mit Hilfe dieser Zurechnungsfähigkeit vermag das moralische Bewusstsein als interaktiv handelndes und bewusstes Ich, über die Moralität der Handlungen zu urteilen. Daher erfüllt die Moralität die Bedingungen für die kommunikative Interaktion des menschlichen Bewusstseins und kann auf der postkonventionellen Stufe zum Ausgangspunkt für den Einklangsversuch der Theorie mit der Praxis werden. Auf die folgenden Begriffe, die gegensätzlich zu sein scheinen und verschiedene Varianten des Gegensatzes zwischen Theorie und Praxis sind, lässt sich die oben entwickelte Theorie der kommunikativen Interaktionskompetenz im Anschluss anwenden, nämlich Erkenntnis und Interesse, Theorie und Handeln, Faktizität und Geltung, Wahrheit und Rechtfertigung u. a.

 

 

 

 

[1] Obgleich Habermas ab und zu das Adjektiv „instrumental“ anstelle des Worts „instrumentell“ gebraucht, verwendet er sie genau bei seinem Werk mit derselben Denotation und Konnotation. Vgl. ebd., S. 218-219.574. Vgl. ders., Theorie und Praxis…, S. 15. Vgl. ders., Theorie…, Bd. I, S. 145.385.

 

[2] Ders., Vorstudien…, S. 222.

 

[3] Ebd., S. 197-198.

 

[4] Ders., Wahrheit…, S. 105.

 

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