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4.4 Schlussfolgerungen

 

 

1) Jenseits der Diskursethik versucht Dussel, über ihren betonten Formalismus hinauszugehen und den materialen Inhalt der teleologischen Ethik sowohl mit den formalen Kommunikationsvorgängen der deontologischen Ethik als auch mit der effizienten Durchführung der Verständigungen in Einklang zu bringen. Damit wird gemeint, dass das kommunikative Handeln nicht nur mit dem strategischen Handeln vereinbar ist, sondern auch mit dem instrumentellen. Aus diesem Grund subsumiert Dussel den Habermas’schen Ansatz innerhalb seines postdiskursiven Denkens, das im Besonderen die Herausforderungen der Ethik und Politik zur Befreiung vom Standpunkt der Opfer aus annimmt. Während Habermas ruhig auf der diskursiven Stufe der formalen Geltung bleibt, bemüht sich Dussel auf der postdiskursiven Stufe der Durchführbarkeit, seinen Beitrag zur effizienten Anwendung der materialen Ethik zu leisten. Im Lichte dieses postdiskursiven Beitrags lässt sich die kommunikative Interaktion des menschlichen Bewusstseins nicht nur als eine formal einverständnis- und verständigungsorientierte Interaktion nach Art von Habermas auffassen, sondern man kann sie auch als eine Interaktion, die die Durchführung jeder Verständigung mittels effizienter Strategien und Instrumente bezweckt, nach Art von Dussel verstehen.

 

2) Unter diesem Gesichtspunkt besteht der ethische Begriff vom „Guten“ sowohl auf dem materialem Inhalt der Handlungen zugunsten des Lebens und auf der formalen Geltung der Kommunikationsvorgänge, die in den formalen Dialog die Opfer einschließen müssen und verständigungsorientiert sind, als auch auf der Durchführbarkeit jeder Verständigung mittels effizienter Strategien und Instrumente im Hinblick auf die Opferbefreiung vom Herrschaftssystem. Obgleich Menschen hinsichtlich der undurchführbaren Pflichten keinen Anspruch auf Güte erheben sollten, könnte ihr Bewusstsein bisweilen in ganz subjektiver Weise im Laufe der Kommunikationsvorgänge die Verantwortung für die Durchführung besagter Pflichten übernehmen. Aufgrund eines solchen Trugschlusses agiert die Subjektivität des Bewusstseins nicht nur unlogisch, sondern sie ist auch moralisch und ethisch ungerecht, weil es ihr an der Vermittlung zwischen dem Sein und Sollen mittels der Brücke des Könnens mangelt.

 

3) Weil die Dusselsche Formulierung der ethischen und politischen Prinzipien der Befreiungsphilosophie vorläufig ist, ist sie kritisierbar und lässt sich durch jeden Betroffenen in Frage stellen. Jedem Betroffenen obliegt die Verbesserung und Weiterentwicklung besagter Formulierung im Laufe der diskursiven Vorgänge, damit sich die Formulierung jedes Prinzips wahrlich aus der kommunikativen Interaktion des Bewusstseins jedes Betroffenen ergibt.

 

4) Während Habermas das Einverständnis vom schwachen Verständigungsmodus unterscheidet, verschiebt sich Dussel vom ersteren zum letzteren und zieht die Möglichkeiten zur effizienten Durchführung besagter Verständigung in Erwägung. In diesem Zusammenhang ist die begriffliche Vereinbarkeit der kommunikativen Vernunftfähigkeit zur Verständigung mit den Mitteln der instrumentellen und strategischen Vernunftfähigkeit eine kohärente Folge der Berücksichtigung des im semiotischen Sinne pragmatischen Aspekts des Wahrheitsbegriffs, in Anbetracht dessen die formalen Vorgänge der kommunikativen Interaktion des Bewusstseins nicht nur nach Art von Habermas einverständnis- und verständigungsorientiert sind, sondern die Verständigung ist auch nach Art von Dussel auf dem Wege des materialen Inhalts der Ethik durchführungsgezielt.

 

5) Im Verhältnis zur Durchführbarkeit lässt sich Dussels Ansatz kritisieren, denn er ist unter Umständen aus der Perspektive des Herrschaftssystems in gewissem Maße undurchführbar. Im Lichte besagter Kritik kann man die bescheidene Rolle der Philosophie als weltanschaulicher Veränderungs- und Umwandlungsfaktor jenseits des derzeitigen Herrschaftssystems zu Bewusstsein bringen, da es die Kompetenz der Philosophie im Vergleich zur Macht besagten Systems aus der alleinigen Argumentationskraft entsteht. Philosophen lassen sich oft durch die rein akademische Philosophie in Versuchung führen, in deren theoretischem Elfenbeinturm sie Zuflucht suchen. Tatsächlich reduzieren sie sie einzig und allein auf einen Kommentar zu Texten der bekanntesten Denker. Auf diese Weise bleiben besagte Philosophen auf der elitären Stufe der Wissenschaftlichkeit, aus deren Perspektive die Herausforderungen des umstandsbedingten Alltagslebens und das Leiden der Opfer beinahe irrelevant für die Wissenschaftlichkeit der Philosophie zu sein scheinen. Ihr Bewusstsein steht in besagtem Elfenbeinturm zwar in Wechselwirkung zu Mitgliedern des Herrschaftssystems, aber es möchte so wenig wie möglich von der kommunikativen Interaktion mit den Opfern besagten Systems abhängen. Die unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft soll die Herausforderung annehmen, solche Opfer in den Dialog einzuschließen. Wer einer Meinung mit Aristoteles ist, dass «o( a)/nJrwpoj fu/sei politiko\n z%=on[…]»[1] ist und «lo/gon de\ mo/non a)/nJrwpoj e)/xei tw=n z%/wn»,[2] wird auch herausgefordert, seine eigene Kommunikationsgemeinschaft zu erweitern.

 

 

 

 

[1] In diesem Sinne ist die menschliche Natur von der Zivilgesellschaft untrennbar. ARISTOTELES, Politica = Poli/tikwn, A, 2. 1253a, 2-3 (Oxonii, Oxford 1962), S. 3.

 

[2] Auf Griechisch bedeutet das Substantiv ›lo/goj‹ sowohl Vernunft als auch Wort, Satz, Abhandlung, die in gewissem Sinn etwas mit der Sprache und mit der kommunikativen Interaktion zu tun haben. Ebd., A, 2. 1253a, 9-10.

 

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