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2.2.1 Fragestellung: Interaktiv handelndes Ich

und System der Ich-Abgrenzungen

 

Von der Grundannahme ausgehend, wonach die Selbstdarstellungs-, Handlungs-, Erkenntnis- und Sprachfähigkeit unabhängig von irgendeiner kulturell spezifischen Bestimmung und allgemein sind, stellt sich Habermas die Frage nach der kommunikativen Interaktionskompetenz, d.h. die Frage nach der kommunikativen Wechselwirkung des interaktiv handelnden Ich gegenüber dem System der Ich-Abgrenzungen. Laut ihm haben Kohlberg & Piaget besser als Parsons anhand der Entwicklungspsychologie des moralischen Bewusstseinsgesichtspunkts aufgrund der drei folgenden Hemmnisse, die die Leistung der soziologischen Rollentheorie Parsons’ behindern, ihren Beitrag zur Untersuchung der Interaktionskompetenz geleistet: Ein methodologisches Selbstmissverständnis des empirischen Status der soziologischen Theorien, eine Vernachlässigung der selbstkritischen Fragestellung nach dem Entwicklungsprozess der Rollenkompetenz und Übervereinfachung der verschiedenen Fähigkeiten, über die die kommunikative Interaktionskompetenz verfügt.

 

Im Gegensatz zu diesen Hemmnissen hat Habermas in der Entwicklungslogik Piagets und seiner Schüler; die jeweils zwischen ›motivationaler‹,[1] kognitiver und sprachlicher Entwicklung der Handlungs-, Erkenntnis- und Sprachfähigkeit unterscheiden, Anstöße zur begrifflichen Rekonstruktion der Kompetenztheorie gefunden. Im Lichte der diskurstheoretischen Rekonstruktion der Entwicklung des Bewusstseins analysiert Habermas die Theorie der Identitätsentwicklung und systematisiert auf Basis von der oben erwähnten ›motivationalen‹, kognitiven und sprachlichen Entwicklung die Kompetenztheorie.

 

Laut ihm entsprechen die expressiven, interaktiven, kognitiven und sprachlichen Dimensionen der kommunikativen Kompetenz besagten Entwicklungsstufen und jeweils den Selbstdarstellungs-, Handlungs-, Erkenntnis- und Sprachfähigkeiten, die sich als universalpragmatische und allgemeine Strukturen ebenso sehr des Persönlichkeitssystems wie der Realitätsdimensionen in der Auseinandersetzung und im Austausch des interaktiv handelnden Ich mit seiner Umwelt entfalten, d.h. in der Wechselwirkung seiner inneren Natur zur sozialen Welt, äußeren Natur und Sprache. Bezüglich dieser drei Realitätsdimensionen schreibt Habermas folgendes:

 

«Die Ich- oder Identitätsentwicklung läßt sich im übrigen nicht als analytisch unabhängige Entwicklungsdimension, die einen Platz neben den drei erwähnten Dimensionen einnimmt, konzeptualisieren. In der Subjektivität des Ichs reflektiert sich die innere Natur, d.h. die zur Erkenntnis-, Sprach- und Handlungsfähigkeit gelangte, den Universalstrukturen einverleibte und im gleichen Maße innerlich gewordene »Natur« […]».[2]

 

Auf der einen Seite ermöglicht die Allgemeingültigkeit besagter Strukturen dem Ich die Bedingungen für eine abstrakte und intersubjektive Verständigung. Ihm als Stück ›kontingenter‹ Natur garantiert die organische bzw. physische Zufälligkeit auf der anderen Seite seine äußere Besonderheit, die es im Unterschied zu den anderen auszeichnet und ihm als biographische Organisation seines Lebens seine innere Einzigartigkeit sichert.

 

Samt der Entfaltung seiner Fähigkeiten bildet sich das interaktiv handelnde Ich stufenweise im Austausch mit den drei Realitätsdimensionen seiner Umwelt, d.h. mit der sozialen Welt bzw. Gesellschaft, äußeren Natur und Sprache, die sich durch die innere Natur des Ich verinnerlichen lassen. Allerdings sind die Begriffe besagter Dimensionen eher komplementär als ausschließend, denn sie sind flexible und durchlässige Realitätsbereiche. Während die Gesellschaft in diesem flexiblen Sinn ein sozial-normativer Aspekt der Wirklichkeit ist, ist die äußere Natur objektiv und die Sprache intersubjektiv.

 

Deswegen bildet sich die interaktive Dimension der kommunikativen Kompetenz mit Hilfe der Handlungsfähigkeit im interpersonalen Umgang mit sozialisierten Teilnehmern, während sich die kognitive Dimension besagter Kompetenz zusammen mit der Erkenntnisfähigkeit im objektivierenden Umgang mit der äußeren Natur entwickelt und solange sich die sprachliche Dimension dieser Interaktionskompetenz anhand der Sprachfähigkeiten im intersubjektiven Umgang mit anderen sprach- und handlungsfähigen Gesprächspartnern entfaltet. In diesem Zusammenhang kann man auch logischerweise über eine expressive Dimension der kommunikativen Kompetenz sprechen, deren Entwicklung von der Selbstdarstellungsfähigkeit im subjektiven Umgang mit der inneren Natur abhängt.

 

Laut Habermas stellen sich komplementäre Verhältnisse vom subjektiven Persönlichkeitssystem des Ich zu den drei Realitätsdimensionen her, d.h. von der Subjektivität besagter innerer Natur zur Normativität der sozialen Welt bzw. Gesellschaft, zur Objektivität der äußeren Natur und zur Intersubjektivität der Sprache. Infolgedessen sind expressive, interaktive, kognitive und sprachliche Dimensionen der kommunikativen Interaktionskompetenz auf der einen Seite und Selbstdarstellungs-, Handlungs-, Erkenntnis- und Sprachfähigkeiten auf der anderen Seite komplementär.

 

Daher lässt sich die Subjektivität des Ich unter allen Umständen gegenüber der Normativität, Objektivität und Intersubjektivität, die als Anforderungen von der Handlung, Erkenntnis und Sprache erhoben werden und ein System von Abgrenzungen gestalten,[3] konstituieren. Deshalb kann das subjektive Ich gegenüber diesen drei Ich-Abgrenzungen und erst mit Hilfe der allgemeinen Strukturen der Handlungs-, Erkenntnis- und Sprachfähigkeiten und anhand ihrer jeweiligen Realitätsdimensionen seine persönliche Identität spezifizieren.

 

Aufgrund jeder komplementären Ergänzung kann das Ich über die Grenzen seiner Subjektivität und über besagte Abgrenzungen hinausgehen, damit das interaktiv handelnde Ich gleichzeitig zur Instanz sowohl subjektiver Motivation und sozial-normativer Interaktion als auch objektiver Kognition und der intersubjektiven Sprache wird.

 

Von der Unterscheidung zwischen Erlebnissen und Äußerungen ausgehend, deren Gegensatz sich als eine Entwicklungsphase des Denkens Habermas’ auffassen lässt, versucht er, das Verhältnis von der Subjektivität zu den Abgrenzungen der Normativität, Objektivität und Intersubjektivität zu analysieren. Obgleich er in diesem Fall diese drei letzteren Begriffe in Zusammenhang mit den interaktiven, kognitiven und sprachlichen Äußerungen bringt, gebraucht Habermas gelegentlich das Verb „äußern“ und das Substantiv „Äußerung“ innerhalb des Wortfelds der Subjektivität.[4] Höchstwahrscheinlich hat die Ambivalenz dieser Begriffe mit den komplementären Verhältnissen von der inneren Natur zur Gesellschaft, zur äußeren Natur und zur Sprache etwas zu tun, denn Habermas selbst rechnet die Äußerungen dem Subjekt zu. Dennoch räumt er ein, dass Äußerungen auch in gewissem Sinn zum Bestandteil der Umwelt des Subjekts werden,[5] d.h. der drei Realitätsdimensionen, nämlich der sozialen Welt, äußeren Natur und Sprache.

 

Während Äußerungen gewissermaßen über das Subjekt hinausgehen, verbleiben Erlebnisse hingegen sozusagen im Subjekt. Nach Habermas lassen sich Erlebnisse direkt und indirekt ausdrücken. Auf diese Weise erhebt die Subjektivität der direkt äußerungsfähigen Erlebnisse Anspruch auf die Wahrhaftigkeit, während die bloße Subjektivität der indirekt äußerungsfähigen Erlebnisse weder wahrhaftig noch unwahrhaftig sein kann, denn sie drücken eigentlich keine subjektive Sprecherintention aus.

 

Wie gesagt, im intersubjektiven Austausch mit seiner Umwelt bildet sich das interaktiv handelnde Ich, dessen Subjektivität sich gegenüber einem System von Abgrenzungen konstituieren lässt. Dazu ist hinzuzufügen, dass das Ich und das System der Ich-Abgrenzungen gleichursprünglich sind und sich in einem einzigen Prozess im Laufe der folgenden Stufen entwickeln: a) Symbiotisch, b) egozentrisch, c) ›soziozentrisch‹, objektivistisch und d) universalistisch. In einem Vorstudium, das Habermas im Jahre 1974 schrieb, berücksichtigte er dieses vierstufige Schema der Entwicklungspsychologie.[6] Man kann mittels eines anderen sechsstufigen Schemas, das Habermas infolge des Einflusses Kohlbergs im Jahre 1983 veröffentlichte, jenes vierstufige Schema ergänzen.

 

Laut Kohlberg besteht der Entwicklungsprozess des moralischen Urteils, das gemäß Habermas’ begrifflicher Rekonstruktion des Jahres 1983 kraft der Urteilsfähigkeit des Ich der spezifisch moralische Bewusstseinsgesichtspunkt ist, aus den sechs folgenden sozialkognitiven Lernperspektiven:[7] a) egozentrisch, b) individualistisch, c) interpersonal, d) systemzentriert, e) sozial normenreguliert, und f) moralisch begründend.

 

Obgleich Schemata ab und zu Vereinfachungen der Wirklichkeit sind, stehen diese beiden z.T. miteinander trotz ihrer Unterschiede in Einklang. Beispielsweise gibt es in beiden Fällen einen Übergang von der Egozentrik zur sozialen Intersubjektivität und danach von der Relativierung der konventionellen Normen und Prinzipien zur universalen Begründung der Moralität, die auch die psychologische und moralische Bewusstseinsentwicklung voraussetzt, d.h. die stufenweise psychologische und moralische Entfaltung des Ich und seiner Identität. Im Laufe der oben erwähnten Entwicklungsstufen lässt sich die Identität des interaktiv handelnden Ich nicht nur im Allgemeinen spezifizieren, sondern auch seine äußere Besonderheit und seine innere Einzigartigkeit im Einzelnen. Stehen die allgemeinen Strukturen der Ich-Abgrenzungen, die dem interaktiv handelnden Ich zur Spezifikation seiner besonderen und einzigartigen Identität verhelfen, mit dem sprachlichen Ursprung universalpragmatischer Fachbegriffe in Einklang? Im Anschluss lassen sich Gründe für die Rechtfertigung und Vertiefung dieser Vereinbarkeit anführen.

 

 

 

 

[1] Die Motivation hat sowohl mit der Handlungsfähigkeit als auch mit der Selbstdarstellungsfähigkeit etwas zu tun, d.h. mit der interaktiven Herstellung interpersonaler Beziehungen und mit der expressiven Selbstdarstellung subjektiver Erlebnisse und Sprechintentionen. Von diesem Standpunkt aus kann Habermas die Entwicklungspsychologie ergänzen.

 

[2] HABERMAS, Jürgen, Vorstudien…, S. 192.

 

[3] H. Gripp hält einfach die Ich-Abgrenzungen für Annahmen der Entwicklung des Ich. Z.B. schreibt sie folgendes: «Hinsichtlich der Entwicklung des Ichs werden also folgende Annahmen gemacht: Es gibt eine stufenweise Abfolge vorzunehmender und immer auch im Normalfall vorgenommener Ich-Abgrenzungen gegenüber der Objektivität der äußeren Natur, gegenüber der Normativität von Gesellschaft, der Intersubjektivität der Sprache und der Subjektivität der inneren Natur». GRIPP, Helga, Jürgen Habermas (Schöningh, Paderborn 1984), S. 60. In anderem Zusammenhang nennt Habermas diese Abgrenzungen auch Erscheinungsformen der Realitätsbezüge auf die Gesellschaft, auf die äußere Natur und auf die Sprache und schließt in diesem Kontext die Subjektivität als Erscheinungsform des Realitätsbezugs auf die innere Natur ein. Vgl. HABERMAS, Jürgen, Vorstudien…, S. 440.

 

[4] Beispielsweise schreibt Habermas folgendes: «[…] der Sprecher muß seine Intentionen wahrhaftig äußern wollen, damit der Hörer an die Äußerung des Sprechers glauben (ihm vertrauen) kann; […]». Ebd., S. 354-355. Ab und zu verwendet Habermas das fremdsprachliche Wort „Expressionen“. Vgl. ebd., S. 600-601.

 

[5] Vgl. ebd., S. 195.

 

[6] Vgl. ebd., S. 198-199.

 

[7] Vgl. ders., Moralbewusstsein…, S. 139.

 

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